Politik unbeeindruckt von Protest: Wie weiter Einfluß nehmen?
Interview der Zeitung junge welt mit Bernd Riexinger, Bezirksgeschäftsführer von ver.di Stuttgart
Betrachten Sie die Demonstrationen vom Sonnabend als Erfolg?
Das war ein voller Erfolg. Es hatte ja z. B. in Stuttgart niemand erwartet, daß 150 000 Leute kommen. Hier im Süden sind wir hochzufrieden.
Die Bundesregierung scheint unbeeindruckt.
Zumindest tut sie so, andererseits kann man daraus nur den Schluß ziehen, jetzt sofort weiterzumachen. Wenn wir es schaffen, diese außerparlamentarische Gegenbewegung zu verfestigen, werden wir auch Erfolge haben. Wir haben in diesem Jahr noch zahlreiche Kommunal- und Landtagswahlen.
Sie setzen vor allem auf Abstrafen bei Wahlen?
Nein. Ich setze in erster Linie auf die außerparlamentarische Bewegung. Natürlich dürfen die Parteien nicht dafür belohnt werden, daß sie Sozialabbau betreiben. Ich sage jetzt nicht, daß das über Wahlen entschieden wird, aber die Regierung gerät leichter unter Druck, wenn sie an Zustimmung verliert. Allerdings nur, wenn es eine außerparlamentarische Bewegung gibt.
Die Spitzen der Gewerkschaft schließen sich dieser Bewertung nur zögerlich an. Gibt es da ein ähnliches Problem wie mit der Politik?
Wir haben bei ver.di noch nie soviel Engagement von Ehrenamtlichen gehabt wie jetzt im Vorfeld dieser Demonstration. Da muß man weiter ansetzen. Wir müssen jetzt eine Entscheidung darüber herbeiführen, daß es sofort weitergeht. In einem ersten Schritt müssen wir uns auf einige Forderungen konzentrieren und versuchen, politischen Einfluß zu erlangen und einzelne Forderungen durchzusetzen oder zumindest eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung zu mobilisieren.
Welche Forderungen könnten das sein?
Erstens: Die Forderung nach Vermögenssteuer, exemplarisch für die Verteilungsfrage. Zweitens die Rücknahme der Zuzahlungen, der Eintrittsgebühren beim Arzt und dessen, was noch kommt: Krankengeld und Zahnersatz selber zahlen usw. Drittens Hartz IV: Wir müssen dringend fordern, daß die Arbeitslosenhilfe nicht gestrichen wird. Das findet auch Resonanz in den Betrieben. Die Leute sehen, daß sich der Druck auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen erhöht, wenn sie bei Arbeitslosigkeit nach einem Jahr Sozialhilfeempfänger sind. Und viertens: Keine Rentenkürzungen. Wenn man das bündelt und sofort die Kampagne weiterführt, wenn Aktionen in den Betrieben stattfinden, kann tendenziell eine politische Hegemonie erreicht werden.
Der zweite Schritt ist, die Tarifverträge zu verteidigen. Die Gewerkschaften müssen eine Kampagne zur Verteidigung der Tarifverträge führen, die jetzt ins Visier der Gegenseite geraten sind. Da geht es um die Absenkung von Löhnen und Gehältern und um Arbeitszeitverlängerung.
Das dritte ist eher eine theoretisch-geistige Sache, die aber flankierend notwendig ist: Wir brauchen ein ausgereiftes Alternativprogramm, das uns politisch und intellektuell in die Offensive zurückbringt.
Sehen Sie Ansätze dafür?
Ich denke, daß der Perspektivenkongress »Es geht auch anders«, den ver.di, IG Metall, ATTAC, Gewerkschaftslinke und andere vom 14. bis 16. Mai in Berlin veranstalten, ein richtiger Schritt ist, um die Debatte darüber fortzuführen und sie auf eine breitere Basis zu stellen.
Wie wird es weitergehen mit öffentlichen Demonstrationen oder in den Betrieben?
Ich denke, daß es beides geben muß. Die Proteste müssen auch zurück in die Betriebe, aber nicht nur dorthin. Wir hier in Stuttgart haben das vor der Demonstration gemerkt. Wir mobilisierten nicht nur in Betrieben, sondern auch in den Stadtteilen, in Wohngebieten, in Straßenbahnen und S-Bahnen. Ich glaube, in der politischen Eroberung des öffentlichen Raums liegt eine große Chance. Mit Medienkonzernen oder ähnlichem können wir nicht konkurrieren.
Sie sind optimistisch?
Ja, ich glaube, der Sonnabend könnte dem außerparlamentarischen Widerstand Schwung geben und ihn verstärken. Vielleicht gibt es jetzt auch eine Chance, einer neuen politischen Formation etwas Boden unter den Füßen zu geben. Ich habe noch nie erlebt, daß solch eine Demonstration auch bei denen, die nicht dabei waren, soviel Sympathie hervorgerufen hat. Es scheint sich da doch was zu tun.
Aus. junge welt vom 06.04.04
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