Eine neue Ära

Über die Chancen und Gefahren der Protesthaltung in der Bevölkerung

Von Murat Çakır

In Deutschland beginnt eine neue Ära. Nach der Unterbrechung der politischen Widerstandstraditionen nach dem Krieg, begeben wir uns wahrscheinlich zum ersten Mal in eine Phase, in der die Bereitschaft zum Widerstand gegen die herrschende Meinung wächst. Wenn die Entwicklungen richtig gedeutet werden können, kann man diese Tatsache zusammen mit den Chancen und Gefahren für die gesellschaftlichen Kräfte erkennen.

Die Proteste vom 3.April, welche im Rahmen der europäischen Aktionstage durchgeführt wurden, werden unterschiedlich bewertet. Hier treten drei grundsätzliche Betrachtungen in den Vordergrund:

Das Erste, wie zu erwarten, ist die Bewertung der herrschenden Meinung, dass diese Proteste »die letzten Zuckungen der gesellschaftlichen Dinosauriern« sei. Die große neoliberale Koalition, der aus weiten Teilen der SPD, einer großen Mehrheit der Grünen und den Oppositionsparteien CDU/CSU, FDP sowie dem Kapital und ihr hörigen Medien besteht, suggeriert, dass die Proteste nicht die überwiegende Meinung der Bevölkerung sei und zeigt sich demonstrativ unbeeindruckt. Mit seiner Aussage »die Gewerkschaften dürfen nicht nur sagen, wogegen sie sind, sondern müssen auch Konzepte vorlegen« signalisiert der neue SPD-Chef Franz Müntefering, dass die Bundesregierung ihre Politik des Sozialabbaus und Kapital hörige Wirtschaftspolitik fortführen werde. Dieses Signal hat zwei Adressaten: zum einen die Gewerkschaften, denen mit der »wir nehmen euch nicht ernst« - Aussage gedroht wird und zum einen die Unternehmer, die beruhigt werden sollen.

Das Zweite ist die Bewertung »die Aktionen waren unzureichend und erfüllten Alibifunktionen«, wie sie von der links-sektiererischen Kreisen oder in der Wochenzeitung »jungle-world« formuliert wurde. Diese Bewertung basiert auf der Feststellung, dass die Gewerkschaften von der SPD kontrolliert werden, sie mit den sozialen Bewegungen nur zum Schein Bündnisse eingehen und versuchen –solange die SPD an der Macht ist- die Protestbereitschaft zu »zähmen«. Die großen Protestaktionen und politischen Streiks in Ländern wie Italien und Frankreich werden als Maßstab genommen und behauptet dass die »Konsensgesellschaft« in Deutschland breche den politischen Widerstand und der »soziale Friede« führe dazu, dass die Aktivisten von politischen Streiks und anderen, radikaleren Aktionen Abstand nehmen.

Obwohl diese Bewertung in Teilen richtig ist, halte ich sie, wegen den Verallgemeinerungen für falsch. Sie ist deshalb falsch, wie diese Bewertung in erster Linie den historischen Sozialstaatsprozess in Deutschland außer Acht lässt und mit der Verallgemeinerung alle GewerkschafterInnen zum Handlungsgehilfen der Sozialdemokratie degradiert. Dennoch stimmt die Feststellung, dass der »soziale Frieden«, welches gerade mit der Annahme des Godesberger Programms der SPD begann und aufgrund der Grenzlage Deutschlands zu einem konkurrierenden System von dem »Rheinischen Kapitalismus« akzeptiert wurde, die politischen Widerstandstraditionen in der (west) deutschen Gesellschaft gebrochen und die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung »gezähmt« hat. Dennoch reicht diese Bewertung nicht aus, die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre zu erklären.

Gewerkschaften und soziale Bewegungen zum ersten Mal auf gleicher Augenhöhe

Die dritte – und auch von mir geteilte – Bewertung ist wie folgend: Die Protestaktionen vom 3.April bedeuten einen wichtigen Wendepunkt, weil Gewerkschaftsführungen zum ersten Mal die sozialen Bewegungen auf gleicher Augenhöhe behandeln und der 3 April den Protestbewegungen eine neu Qualität gebracht hat. Dass die Gewerkschaftsführer sowohl bei der Vorbereitung, als auch während der Durchführung und danach, sich stets in den Vordergrund gedrängt haben, ist – insbesondere für diejenigen, die gewerkschaftliche Strukturen näher kennen – ein unbedeutendes Detail, welches überwunden werden kann. Das eigentlich wichtige an diesem Tag ist, dass in der Ehe zwischen der SPD und den Gewerkschaften »schwere Zerrüttungen« begonnen haben. Die Mündung dieser Zerrüttungen in einer »Scheidung« hängt von der Haltung der sozialen Bewegungen und anderen Faktoren ab. Zu den anderen Faktoren komme ich später.

Dass die deutschen Gewerkschaften, deren Mitgliederzahl mehrere Millionen beträgt, zu einer solchen Aktion nur »500.000« Menschen – und das mehr durch das Engagement der sozialen Bewegungen – mobilisieren konnten, kann durchaus als eine Schwäche betrachtet werden. Dennoch bedeuten diese Aktionen für einen großen Kreis von Menschen, die von der aktuellen Politik unzufrieden sind, aber sich nicht an den Kundgebungen beteiligt haben, eine große Motivation. Die Aktionen bewirkten zu mindestens, dass viele das Gefühl »ich bin nicht alleine« entwickeln konnten. Auf der anderen Seite hat der 3.April dazu geführt, dass die herrschende Meinung – auch wenn es so nicht gezeigt wird – sich gestört gefühlt und trotz der Bilder- und Nachrichtenzensur in den Medien, einen großen Teil der Bevölkerung erreicht hat. So betrachtet kann der 3.April, als ein Tag bezeichnet werden, der Hoffnung für die nahe Zukunft macht.

Die Unzufriedenheit wächst, aber auch die Resignation

Eine ernsthafte Bewertung wird feststellen, dass in der Bevölkerung aufgrund der umgesetzten Politik und arbeiterfeindlichen Sozialabbau, die Unzufriedenheit in nie da gewesener weise wächst. Die Sozialdemokratie erfüllt ihre Gründungsmission in tragischer weise: Mit ihrer asozialen Politik vereint sie Arbeiter, Arbeitslose, Rentner, Junge, Kranke und Minderheiten in einer Front gegen kapitalhörige Politik. Insbesondere unter den Gruppen, die nicht zu den klassischen Protestpotential gehören, wächst die politische Unzufriedenheit und Oppositionsbereitschaft. Die sozialen Verbände und Organisationen der Globalisierungsgegner erleben einen Mitgliederboom. Beispielsweise traten Zehntausende von RentnerInnen innerhalb einer kurzen Zeit in den VdK. Derzeit sieht es so aus, dass dieser Trend weiter anhalten wird.

Aber auf der anderen Seite wird diese Unzufriedenheit in keine politische Struktur kanalisiert. Die etablierten Parteien, dazu gehört auch die PDS, können das Vertrauen der Unzufriedenen nicht gewinnen. Und weil keine wählbare soziale Alternative vorhanden ist, verlieren diese Menschen ihre Hoffnung und ziehen sich resigniert zurück. Wenn das so weitergeht, wird die Gefahr der Annäherung der unzufriedenen Massen an rassistische und populistische Positionen von Tag zu Tag größer.

Was ist zu Tun?

Die obigen Feststellungen bringen automatisch diese Frage mit sich. Dabei beinhaltet diese Frage zugleich ihre Antwort in sich. Denn, weil die aus der Regierung und Opposition bestehende politische Struktur zur Politikwechsel nicht bereit ist, wird der Politikwechsel nur durch neue Alternativen durchsetzbar sein. Wenn die derzeit entstehende „geeinigte“ außerparlamentarische Opposition die Kraft erlangt, sich auf der politisch – parlamentarischen Ebene zu vertreten, dann wird sie auch die Möglichkeit bekommen, die politischen Entscheidungsprozesse unmittelbar zu beeinflussen und den Druck für einen Wechsel wirkungsvoll zu erhöhen. Weil das nicht Vorhandensein einer solchen politisch – parlamentarischen Vertretung die Gewerkschaften wieder auf den Schoß der SPD drängen und durch die Erhöhung der politischen Resignation die Wahlbeteiligungen negativ beeinflussen wird, kann die entstehende geeinigte außerparlamentarische Opposition bei Fehlen einer solchen Wahlalternative eine Totgeburt werden.

Die S.O.S. funkende SPD hat sich, gleich einer »Titanic« der neuen Zeit, in eine unrettbare Situation manövriert. Alle Energien, die zur Rettung(!) der SPD verwandt werden, sind vergeudete Energien. Die deutsche Sozialdemokratie hat mit ihrer Wahl zugunsten des Kapitals und des Neoliberalismus, ihren Platz in der gegnerischen Frontstellung eingenommen. Sogar die in den achtziger und neunziger Jahren benutzte Formulierung des »kleineren Übels« gilt für sie nicht mehr. Trotz einer gewissen Wählerschaft ist die SPD keine Partei, welche die Interessen der Bevölkerung vertritt.

Auch wenn die PDS nicht in dieser Härte kritisiert werden kann, kann auch sie nicht als eine Alternative funktionieren. Zwar hat die PDS die Fronten nicht gewechselt, so stellt sie dennoch aufgrund ihrer internen Probleme und der Tatsache, die gesamte sozialistische Bewegung in Deutschland nicht eingebunden zu haben, derzeit keine wählbare Alternative dar.

In dieser Situation bleibt als einziger Weg, die Gründung einer neuen politischen Formation, welche die außerparlamentarische Opposition vertreten, sich für die Interessen einer breiten Bevölkerungsschicht einsetzen und den Kampf mit den herrschenden Kräften aufnehmen muss. Franz Müntefering hat teilweise recht: Es reicht nicht aus, nur zu protestieren, es muss auch artikuliert werden, was man will. Und nicht nur dass, es muss gleichzeitig für die Umsetzung des Artikulierten und der seit langem vorbereiteten Konzepte gestritten werden. Gerade dies ist nur möglich, wenn eine wählbare sozial Alternative aufgebaut wird.

Sowohl in den Internetseiten der »wahlalternative.de«, als auch in den Dokumenten anderer Initiativen (einige davon sind in den Seiten unseres Onlinemagazins kozmopolit.com zu finden) wird hinreichend zu der Frage, wie eine solche wählbare soziale Alternative aussehen könnte, Stellung genommen. Diese will ich hier nicht wiederholen. Nur ergänzen, dass man sich alleine mit einer Initiative auf der Bundesebene nicht eingrenzen sollte. Insbesondere müssen auf der Kommunalebene, wie auch auf der Landesebene, ähnliche Schritte unternommen und dafür gesorgt werden, dass die Bevölkerungsinteressen in den jeweiligen politischen Entscheidungsmechanismen Einklang finden. Kurzum, alle Bereiche des Lebens müssen als Widerstandsebenen gegen den Neoliberalismus erklärt werden.

Ein historisches Momentum

Für den Erfolg einer solchen politischen Formation und für die Umwandlung der außerparlamentarischen Opposition zu einer geeinten und organisierten Kraft bestehen genügend Potentiale. Wie oben beschrieben, die Bereitschaft zum politischen Widerstand wächst in größeren Teilen der Bevölkerung und die Menschen hoffen auf eine neue Kraft, die für ihre Interessen kämpft. Wenn man bedenkt, wie positiv alleine das Gerücht einer »neuen linken Partei« aufgenommen wurde, dann kann man sich etwa ausmalen, wie groß die gesellschaftliche Unterstützung für einen politischen Bündnis, der von Gewerkschaftern, über soziale Bewegungen bis hin zu Kommunisten und Sozialisten besteht, sein könnte. Wir stehen vor einem historischen Moment, der noch nicht Mal von den herrschenden Kräften in dieser Form erwartet wurde. Wenn dieser Moment verpasst wird, so habe ich die Befürchtung, dass die nächsten Jahrzehnte eine dunkle Zukunft bringen werden, in der, der »Wilde Kapitalismus« seine absolute Herrschaft errichten und die gesellschaftliche Opposition zur unbedeutenden Marginalisierung gedrängt wird. Wenn dieser Moment genutzt werden kann, dann wird die gesellschaftliche Opposition, welches für die soziale Gerechtigkeit, für den Frieden und einer ökologischen Entwicklung streitet, bei ihrem Widerstand gegen den herrschenden neoliberalistischen Block an Stärke gewinnen. Abgesehen davon, wird die Gründung einer solchen politischen Formation in Deutschland, ein positives Beispiel für andere Länder sein und so für die Internationalisierung des Widerstandes gegen den Neoliberalismus sorgen.

Wer heute sich gegen Neoliberalismus, Sozialabbau und Kriege wiedersetzen will, steht vor der Aufgabe, seinen Beitrag für den Aufbau einer solchen Formation zu leisten. Es besteht die Chance, eine starke gesellschaftliche Opposition auf die Beine zustellen. Diese Chance darf nicht verpasst werden.

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