Bewegung für einen Richtungswechsel - Die Demonstrationen am 3. April 2004

Redaktion Sozialismus

Der Aufruf von Gewerkschaften, Sozialverbänden und globalisierungskritischer Bewegung zum Protest gegen die neoliberale Politik der rot-grünen Bundesregierung und die "schwarze Agenda" der bürgerlichen Parteien war ein voller Erfolg. Mit einer halben Million TeilnehmerInnen haben sich mehr Menschen als erwartet an den Kundgebungen in Berlin, Stuttgart und Köln beteiligt. Auch in anderen europäischen Ländern haben Demonstrationen gegen den weiteren Abbau von sozialen und demokratischen Rechten und den Verzicht der nationalen Regierungen auf eine öffentliche Politik der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Sicherung vernünftiger Ausbildungsverhältnisse und der Absicherung der sozialen Lebensrisiken stattgefunden. In Rom folgten dem Aufruf der großen Gewerkschaftsverbände eine halbe Milllion Menschen, um gegen die geplante Heraufsetzung der Lebensarbeitszeit für den Erhalt der vollen Rente von 35 auf 40 Jahre zu protestieren.

Für den Mobilisierungserfolg waren mehrere Faktoren maßgeblich.

Erstens. Für viele BürgerInnen war im März 2003 die neue Qualität der rot-grünen Agenda-Politik, der Abschied von sozialer Gerechtigkeit als Leitmotiv sozialdemokratischer Politik, noch nicht offensichtlich. Die Hoffnung, durch Druck und intensive Diskussion den Kurs der Sozialdemokratie beeinflussen zu können, bestimmte z.T. noch das politischen Agieren. So wurde nach der als enttäuschend eingeschätzten Mobilisierung bei den Protestaktionen im Mai 2003 zunächst eine "Protestpause" ausgerufen. Die Niederlage der IG Metall im Kampf um die 35-Stunden-Woche in den neuen Bundesländern und die anschließende Richtungsauseinandersetzung innerhalb der Organisation taten ein übriges, die soziale Opposition in diesem Lande nicht wirksam werden zu lassen.

Diese Situation hat sich im Verlauf des Jahres geändert. Die Bundesregierung hat den neoliberalen Kurs stur fortgesetzt und in den parlamentarischen Kompromissen mit dem bürgerlichen Lager z.T. noch verschärft. Sie hat sich dabei weder von wachsender Politikverdrossenheit, einer massiven Austrittswelle aus der SPD noch von der deutlich werdenden Kritik von Gewerkschaften und Sozialverbänden beeinflussen lassen. Mit Beginn dieses Jahres sind die "Reformen" der Kranken- und Rentenversicherung (Praxisgebühr, Zuzahlungen, Rentenkürzungen etc.) im Alltag der Menschen angekommen.

Was – zweitens – nicht aus dem Alltag verschwunden ist, ist die Massenarbeitslosigkeit. Wenn auch nicht mehr statistisch, so wird sie doch real bis weit ins nächste Jahr weiter ansteigen. Die so genannten Hartz-Gesetze sorgen dafür, dass sie wirkt: mit Kürzungen des Arbeitslosengeldes, der Streichung der Arbeitslosenhilfe, mit Niedriglohnjobs und Ich-Ags, mit der Durchlöcherung des Kündigungsschutzes, mit der Streichung aktiver Arbeitsmarktpolitik. Doch was es nicht gibt, sind Jobs. Der Exportweltmeister Deutschland versteht es blendend, Arbeitslosigkeit überall in Europa abzuladen, aber nicht, Arbeitsplätze im Binnenmarkt zu schaffen. Statt mehr Nachfrage zu schaffen, werden Einkommen gekürzt und öffentliche Investitionen zusammengestrichen – und als Sahnehäupchen gibt es Arbeitszeitverlängerung und Eliteförderung. Unter diesen Bedingungen kann selbst ein Exportweltmeister keinen Aufschwung erzeugen, sondern verharrt in einer Stagnationsfalle.

Drittens ist es gelungen, erste Ansätze für ein breites Bündnis zwischen Gewerkschaften, Sozialverbänden und globalisierungskritischer Bewegung zu zimmern. Dass dies konfliktuell ist, hat sich in den Vorbereitungen auf den 2./3. April gezeigt. "Wir habe es mit den unterschiedlichsten Intiiativen und Zielsetzungen im Detail zu tun. Das muss respektiert werden. Dann wird es gelingen, die Vernetzung voranzubringen. Das ist für zukünftige Auseinandersetzungen wichtig. Wir wollen die Isolation überwinden und verbinden, was zusammengehört." (Bsirske)

Viertens hat zur Mobilisierung auch der "Amoklauf" (Peters) des bürgerlichen Lagers beigetragen. Der Vorstoß von Stoiber und Koch zur Verlängerung der Arbeitszeiten im Öffentlichen Dienst ist nur das allerjüngste Beispiel eines rechtskonservativen Marktfundamentalismus, für den die Parteivorsitzende Merkel beim letzten Bundesparteitag der CDU klare Mehrheiten gefunden hat. Für den Fall einer Machtübernahme in 2006 hat sie die "Sanierung" der Berliner Republik binnen zwei Jahren angekündigt. Dies würde dann praktisch heißen: weitere radikale Steuersenkungen zugunsten der Besserverdienenden und Vermögensbesitzer, Aushebelung der Tarifautonomie, Demontage des Kündigungsschutzes, Einschränkung des Streikrechts, Privatisierung des sozialen Sicherungssystems (Kopfpauschale usw.) – in der Tat ist die Agenda 2010 für diese Kräfte nichts anders als die "Overtüre zu einer Symphonie mit dem Namen 'Systemwechsel'" (Bsirske).

Der breite Protest von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen steht in einem auffälligen Spannungsverhältnis zur medialen Öffentlichkeit und den politischen Parteien. In den Medien wurde die Berichterstattung über den Europäischen Aktionstag kleingehalten und in den Kommentaren weitestgehend als Aufzug der "Ewiggestrigen" denunziert. Das bürgerliche Lager war sich in seiner Kommentierung der Demonstration der linken politischen Opposition schnell einig: "Wir müssen das Tarifkartell aufbrechen und die Funktionäre entmachten." (Friedrich Merz)

Am 3. April gingen die Menschen in Berlin, Köln und Stuttgart für einen "grundlegenden Wechsel in der Politik" (Peters) auf die Straßen. Wenn es ein Kommunikationsproblem gibt, besteht dieses auf Seiten der Sozialdemokratie, deren neuer Vorsitzender meint, sich mit billigen "Populismus"-Vorwürfen aus der Affaire ziehen zu können. Sich nicht mit Alternativen auseinanderzusetzen, bedeutet, dass Bundesregierung und SPD-Führung in den kommenden Auseinandersetzungen nur mit taktisch motivierten symbolischen Zugeständnissen versuchen werden, unzufriedene Klientel wieder einzubinden. Wie schwer dies bereits fällt, zeigen die innerparteilichen Konflikte um die Ausbildungsplatzabgabe und die Erbschaftsteuer. Dagegen gilt es den Grundkonflikt immer wieder deutlich zu machen: "Diese Politik löst keine Probleme, sie verschärft sie. Sie führt Wirtschaft und Gesellschaft nicht aus der Krise heraus, sondern weiter hinein". (Peters)

Die Proteste vom 3. April markieren nach der Demonstration vom November letzten Jahres einen hoffnungsvollen Schritt raus aus der Situation von Fatalismus und politischer Resignation. Diese noch keineswegs stabile Tendenz gilt es auf allen Ebenen zu stärken. In den Gewerkschaften: Die Erkenntnis, dass es auf der Grundlage der Agenda 2010 keine politischen Schulterschlüsse geben kann (Sommer), muss verbreitert und gefestigt werden. In der Zivilgesellschaft, indem zwischen den verschiedenen und sehr heterogenen sozialen Bewegungen eine neue Kultur der politischen Verständigung heranwächst – "am besten, wenn wir einander ernst nehmen, voneinander lernen, verschiedene Organisationskulturen und Erfahrungen resprktieren" (Bsirske). In Europa, in dem sich der Widerstand gegen die transnationale Agenda gegen das Erbe des europäischen Wohlfahrtsstaates in der Vergangenheit immer wieder national formiert hat, statt sich gemeinsam der Herausforderung der Anglo-Amerikanisierung der sozialen Verhältnisse zu stellen.

In Europa haben zuletzt die Wahlen in Spanien und Frankreich die nationalen und außenpolitischen Widersprüche des neoliberalen Politikmodells deutlich gemacht. Selbst in Italien bröckelt die "Bastion Berlusconi". Gerade in den gegenwärtigen politischen Situation sind Regierungswechsel nur in Ausnahmefällen die Overtüre für Politikwechsel. Das Dilemma besteht also darin, dass der Protest gegen neoliberale Politik zwar eine beeindruckende Basis in der Zivilgesellschaft hat, allerdings nur Rinnsale existieren, um diesen Protest ins politische System zu spülen und gesellschaftliche Veränderungen auszulösen.

In diesen Zusammenhang sind auch die Initiativen "Wahlalternative 2006" und "Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" einzuordnen. Sie markieren den Versuch, dem sozialen Protest einen Kanal in den politischen Raum zu öffnen. In der weiteren Entwicklung wird es für sie zunächst darauf ankommen, in der Kritik der Agenda-Politik gemeinsam die inhaltlichen Alternativen der linken Opposition (Binnenmarkt, öffentliche Investitionen, Korrektur der Verteilungsverhältnisse, neue Finanzgrundlage der sozialen Sicherungssysteme) auszuarbeiten und zu verbreiten.

Aus: http://www.sozialismus.de/

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