Am Ersten Mai 1933 marschierten Gewerkschaften und Nazis noch gemeinsam durch das Städtchen, das in einem dicken Stadtmauerring mit stämmigen Türmchen steckte, wie Mutter im Mieder, den Weinberg runter, die Bahnhofsstraße rauf, und erreichten im Gleichschrittmarsch den Sportplatz im Meisental, wo die Schlusskundgebung stattfand. Parole: »Ehret die Arbeit und achtet den Arbeiter.«
Ein Foto als Postkarte von diesem Tag zeigt Hofacker im Schmuck der Hakenkreuzfahnen, die Route garniert mit Leuten, die sich ordentlich angezogen haben und Fähnchen in den Händen halten. Auf der Rückseite des Fotos steht: »Wahrscheinlich würden sie noch heute gemeinsam marschieren.«
Peter O. Chotjewitz: Das Wespennest
Erfolgsgeschichte mit Lücken
Wer die Homepage der IG Metall aufruft, bekommt eine der größten Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik Deutschland serviert. Eine Chronik gibt über die zahlreichen Erfolge der Gewerkschaft seit 1956 Auskunft. Die Liste der erstrittenen Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen ist lang und sie mag beruhigen: Ein fehlgeschlagener Streik wie im vergangenen Sommer im Osten kann einer historisch bewährten Organisation mit immer noch 2,6 Millionen Mitgliedern eigentlich nichts anhaben.
Die Niederlage im Osten taucht allerdings in der Chronik nicht auf. Andere Niederlagen auch nicht. Das ist das erste, was stutzig macht. Wieso sollte eine so starke Organisation ein Problem damit haben, Niederlagen einzugestehen?
Man erfährt auch nicht wirklich, wie die Erfolge zustande kamen. Sicher, vielen Tarifabschlüssen gingen Streiks voraus, aber es ist ausgeblendet, welches Kräfteverhältnis ihnen zugrunde lag: Ob es nicht etwa eine notorisch unzufriedene Basis war, die die Gewerkschaftsführung zu besonders wagemutigen Tarifforderungen trieb?
Merkwürdig, über die Basis der Gewerkschaft immerhin: die Arbeiterklasse liest man in der Selbstdarstellung wenig. Nicht sie tritt als handelnder Akteur auf; es ist jeweils die Gewerkschaft, die die tarifpolitischen Ziele bestimmt, die nötigen Maßnahmen veranlasst, die Verhandlungen führt und die Ergebnisse verkündet. Klassenkampf? Gewerkschaftskampf!
Der letzte Punkt, der stutzig macht, betrifft den Zweck der ganzen Veranstaltung. Wer die Gewerkschaftschronik genauer anguckt, liest streng genommen nur Verdrießliches: Ständig wird gekämpft, ständig wird hier mal die Arbeitszeit verkürzt und da mal der Urlaub um ein, zwei Tage aufgestockt, es gibt ein paar Prozent Lohnausgleich und ab und an eine moderate Lohnerhöhung. Ob sich dafür die mitunter wochenlangen Streiks gelohnt haben? Zumal kurze Zeit später das Spiel wieder von vorne losgeht.
Die Erfolgschronik der IG Metall erscheint als eine einzige Sisyphos-Arbeit. Ist es möglich, dass sich darin, in dem unermüdlichen, ständig vom Scheitern bedrohten Erträglichmachen des eigentlich Unerträglichen, der kapitalistischen Arbeitswelt, der Zweck der organisierten Arbeitnehmerschaft erschöpft?
Schon ein so oberflächlicher Blick auf die Gewerkschaft legt den Schluss nahe, dass es sich nicht um eine linke Organisation handelt, dass es prinzipiell kein systemüberschreitendes Moment in ihrem Wesen und ihrer Tätigkeit gibt. Vielmehr sind die Gewerkschaften affirmativer Bestandteil des Kapitalverhältnisses.
Der Metallerstreik im Osten und die Anfeindungen, die der IG Metall widerfahren sind, sollten davon nicht ablenken. Es war die Gewerkschaft, die darauf verzichtet hat, den Streik durch Aktionen in Westbetrieben zu unterstützen. Ein paar Tage Solistreik bei Daimler in Stuttgart oder Volkswagen in Wolfsburg und die 35-Stunden-Woche im Osten wäre durchgesetzt worden. Das Gegenteil war der Fall: Betriebsräte im Westen klagten, dass der Streik, der hauptsächlich bei Automobilzulieferern stattfand, auch ihre Betriebe, die große Automobilindustrie, in Mitleidenschaft zu ziehen drohte. Und es war die Gewerkschaft, die den Streik von sich aus abgebrochen und sich selbst zum Problemfall deklariert hat.
Schuld daran war nicht ein dramatischer Kampf zwischen einem linken und einem rechten Flügel in der Gewerkschaftsleitung. Dass der Vorsitzende Jürgen Peters kein »Linker« ist, wird er selbst nicht müde zu betonen. In einem Interview mit der Zeit erklärt er: »Das Thema Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien bleibt in der Diskussion. Aber nicht in der gegenwärtigen Diskussion.« Das also ist gewerkschaftliches Linkssein.
Schuld war auch nicht die extrem gewerkschaftsfeindliche Berichterstattung. Wie kann es denn sein, dass eine millionenstarke Organisation wegen ein paar hässlicher Kommentare in der Süddeutschen Zeitung oder der FAZ kuscht, Blätter, die wohl kaum von ihrer Klientel gelesen werden? Seit wann wird der Arbeitskampf von seiner Bewertung in den bürgerlichen Medien abhängig gemacht? Das zu behaupten, wäre in der Tat zu kurz gegriffen. Aber in einer Abhängigkeit befindet sich der Kampf allemal.
Sisyphosarbeit
Um diese herauszuarbeiten, muss man sich mit dem Existenzgrund der Gewerkschaften beschäftigen. Der liegt in der Lohnarbeit. Lohnarbeit heißt, dass es Menschen gibt, die von Lohn abhängig sind, die Arbeit leisten müssen, um dafür Lohn zu kassieren. Diejenigen, die den Lohn zahlen, sind die Arbeitgeber, die ihrerseits nach Profit, nach Geldvermehrung streben. Daraus folgt, wie Peter Decker und Konrad Hecker in ihrem Buch »Das Proletariat« (2002) herausgearbeitet haben, dass Lohn eine negative Größe für die Arbeitgeber ist. Lohn geht vom Gewinn ab. Er ist ein Kostenfaktor, und Kosten, das weiß jeder Zeitungsleser, gehören in der freien Marktwirtschaft immerzu reduziert.
Was für die einen der Lebensunterhalt ist, ist für die anderen eine Größe, die es beständig zu reduzieren gilt: durch Lohndrückerei, die extensive Ausbeutung der Arbeitskraft (Erhöhung der subjektiven Arbeitsleistung) und vor allem ihre intensive Ausbeutung, also durch die Steigerung der Produktivität und die Erhöhung der objektiven Arbeitsleistung. An dieser Stelle wird klar, warum die Gewerkschaftsarbeit als Sisyphosarbeit erscheint. Sie läuft mit ihren Forderungen der permanent intensivierten Ausbeutung hinterher. Dazu passt ihre selbst auferlegte Beschränkung: Ihre Forderungen bewegen sich nur im Rahmen der jeweiligen Produktivitätssteigerungen, machen sich also vom Grad der intensivierten Ausbeutung abhängig.
Im Lohn drückt sich also ein unüberwindlicher sozialer Gegensatz aus. Die einen müssen von dem leben, was das Profitinteresse der anderen schmälert. Marx’ Forderung in seinen Ausführungen zur Bestimmung des Lohns lauten folglich auch: Nieder mit dem Lohnsystem, Abschaffung des damit verbundenen sozialen Gegensatzes.
Dieser Gegensatz erscheint oberflächlich betrachtet als ein Zuwenig an Lohn. Um mehr Lohn zu bekommen, das zeigen die Erfahrungen in den Betrieben, muss man kämpfen, gemeinsam kämpfen. Die Lohnabhängigen müssen die Konkurrenz, die zwischen ihnen als je einzelnen Anbietern der Ware Arbeitskraft besteht, überwinden und eine Gegenmacht aufbauen, die die Kapitalisten dazu zwingt, so viel Lohn zu zahlen, dass ein Überleben möglich wird.
Dieser Kampf suspendiert aber nicht das Kapitalverhältnis. Das Bestreben der Kapitalseite, die Arbeit immer effektiver anzuwenden, wird durch den Kampf der Arbeiter um einen besseren Lohn allenfalls verfeinert. Lohnarbeit ist also eine doppelte Belastung: Man muss sich nicht nur seinen Lebensstandard hart erarbeiten, man muss auch ständig darum kämpfen, dass er erhalten bleibt. Dafür gibt es die Gewerkschaften. Wenn also die Gewerkschaften ihren Grund in der Lohnarbeit haben, dann besteht im System der Lohnarbeit auch ihre Abhängigkeit.
Die Gewerkschaftsfrage
Um das näher zu erläutern, lohnt es sich, die berühmte, zwischenzeitlich vergessene, aber aktuell sich wieder artikulierende »Gewerkschaftsfrage« zu stellen: Was soll die Linke eigentlich mit den Gewerkschaften anfangen? Das war bereits zu Zeiten der Klassiker alles andere als klar.
Schon bei Marx taucht eine Ambivalenz auf. Einerseits kritisiert er die Gewerkschaften als das Kapitalverhältnis stabilisierende Organisationen, andererseits »sind die Gewerksgenossenschaften, ohne dass sie sich dessen bewusst wurden, zu Organisationszentren der Arbeiterklasse geworden, wie es die mittelalterlichen Munizipalitäten und Gemeinden für das Bürgertum waren. Wenn die Gewerksgenossenschaften notwendig sind für den Guerillakrieg zwischen Arbeit und Kapital, so sind sie noch weit wichtiger als organisierte Kraft zur Beseitigung des Systems der Lohnarbeit und der Kapitalherrschaft überhaupt.« Marx schreibt auch von der »historischen Mission« und »der Pflicht« der Gewerkschaften, die politische Macht zu erobern. Hehre Worte, aus deren Dringlichkeit schon der Zweifel spricht, ob dazu die Gewerkschaften überhaupt willens sind.
In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts verfliegt das revolutionäre Pathos von Marx und Engels. Engels notiert 1879: »Die englische Arbeiterbewegung dreht sich seit einer Reihe von Jahren auswegslos in einem Kreis der Streiks um Löhne und Verkürzung der Arbeitszeit, und zwar nicht als Notbehelf und Mittel der Propaganda und Organisation, sondern als letzten Zweck. Die Trade Unions schließen sogar prinzipiell und statutengemäß jede politische Aktion aus und damit die Teilnahme an jeder allgemeinen Tätigkeit der Arbeiterklasse als Klasse … Es kann also von einer Arbeiterbewegung hier nur insofern die Rede sein, als hier Streiks vor sich gehen, die siegreich oder nicht, die Bewegung keinen Schritt weiterführen.« Wie die Zeiten sich doch gleichen.
Die ambivalente Haltung Marx’ und Engels’ gegenüber den Gewerkschaften hat ihren Ausgangspunkt in der Bestimmung von Lohnarbeit als ihrem Existenzgrund und löst sich allmählich zu ihrer negativen Seite hin auf. Linke späterer Zeiten teilen die Ambivalenz, nicht aber ihren Ausgangspunkt. Die Arbeiterklasse wird als Existenzgrund angeführt. Rainer Zoll schreibt 1976 in »Der Doppelcharakter der Gewerkschaften«, einem maßgeblichen Text der neomarxistischen Gewerkschaftstheorie: »Sie sind die erste, unmittelbare Organisation der Lohnarbeiter und als solche ein Element des Kapitalverhältnisses. Sie bilden eine Gegenmacht der Arbeiter zur Macht des Kapitals, aber sie sind auch ein Ordnungsfaktor …«
Zoll, bis 1974 tätig in der Pressestelle des Vorstandes der IG Metall und danach Professor für Theorie und Geschichte der Gewerkschaften in Bremen, setzt die Gewerkschaften quasi-ontologisch. Sie sind bei ihm immer schon gegeben. Es gibt eine Arbeiterklasse, und sobald die sich nur irgendwie artikuliert, gibt es auch Gewerkschaften. Die Aufgabe der Linken besteht darin, in die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen zu intervenieren, die Begrenztheit der Kämpfe aufzuweisen und unaufhörlich mit der Etablierung einer gewerkschaftlichen Gegenmacht die soziale Revolution vorzubereiten.
Dagegen spricht die historische Erfahrung, dass die Gewerkschaft mit jedem tagespolitischen Erfolg um den Erhalt der Profitquelle, die der Arbeiter nun mal darstellt, weiter in das Lohnsystem eingebaut wird. Als 1890 Sozialdemokraten und Gewerkschaften die Forderung nach Arbeitslosengeld erheben wollten, höhnte der alte Engels: »Den Arbeiter auf Staatsalmosen zu verweisen Konsequenz wäre Staatssozialismus.« Wird der Staat als Adressat der brennenden sozialen Frage verstanden, dann nimmt die Chance, die gewerkschaftlichen Kämpfe von links zu instrumentalisieren, beständig ab. Das Feld, das sich damit öffnet, ist das des Nationalismus und der faschistischen Lösung der Krise. Nicht nur in Chotjewitz’ Roman »Das Wespennest« marschierten die Gewerkschaften mit den Nazis.
Noch einmal anders formuliert: Die Gewerkschaften treten als Lohnkartelle auf. Ihr Kampffeld ist der Arbeitsmarkt, auf dem kein freier Warentausch herrscht. Denn in der Nachfrage nach Arbeitskräften drückt sich der Zwang aus, dass diese sich den Kapitalinteressen unterordnen müssen, um in ein Lohnverhältnis eintreten zu können. Die Gewerkschaften bereinigen den Arbeitsmarkt insofern, als sich die Arbeiter in ihrer Konkurrenz nicht gegenseitig zerfleischen, sondern kollektiv für bessere Löhne streiten. Die Grenzen dieses Kampfes markieren aber die Existenz der Lohnarbeit und die Existenz des Staates, der die Umverteilung des Lohns zugunsten von Krankenkassen, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen bestimmt und organisiert.
Was tun?
Die Linken in der BRD stellten sich in den siebziger Jahren mit großem theoretischen Aufwand die Gewerkschaftsfrage neu, obwohl doch die großen Klassenkämpfe um 1968 in Frankreich und Italien von den Gewerkschaften torpediert und auch die wilden Streiks in der BRD zwischen 1969 und 1973 gegen die Gewerkschaften geführt worden waren. Sie sahen in der schieren Existenz der Gewerkschaften keinen weiteren Grund, den Kapitalismus abzuschaffen. Der Doppelcharakter der Gewerkschaften besteht eben nicht darin, gleichzeitig emanzipatorisch und stabilisierend zu sein, sondern mit jedem Erfolg auch die Existenzunsicherheit zu reproduzieren. Der Maßstab des gewerkschaftlichen Erfolges bemisst sich nämlich nicht an dem Interesse des Arbeiters, sondern an den Zugeständnissen, die Staat und Kapital einzuräumen bereit sind.
Und die fallen im Zeitalter der internationalen Standortkonkurrenz knapp aus. Wer sich systematisch vom Staat und dem auf dem Arbeitsmarkt herrschenden Gewaltverhältnis abhängig gemacht hat, der knickt leicht ein, wenn Unternehmerverbände, die Presse und schließlich die Regierung die Akzeptanz versagen. Egal wie mitgliederstark die Organisation ist.
In diesem Sinne ist es nur konsequent, dass der Streik im Osten auf der Homepage der IG Metall verschwiegen wird. Hier präsentiert sich ein Dienstleistungsunternehmen der sozialen Sicherheit, das in den kleinen Freiräumen, die man ihm noch zugesteht, den Arbeitgebern dabei hilft, den Preis der Arbeit zu bestimmen.
Diese Tätigkeit darf man nicht unterschätzen. Der Gewerkschaftssoziologe Ulf Kadritzke brachte es kürzlich auf den Punkt: »Die Unternehmer sollten einfach mal eine Lohnpolitik ohne Flächentarifvertrag ausprobieren. Dann würden sich vermutlich die Interessen auch auf der Kapitalseite neu ordnen. Es könnte sich nämlich zeigen, dass Großunternehmen anfälliger gegenüber militanten Streiks und Betriebssyndikalismus werden.« (Jungle World, 29/03)
Bleibt wieder einmal die Frage: Was tun? Junge Genossen, vielleicht angefixt von der Gewerkschaftsfrage, stellten sie vor 25 Jahren Paul Mattick, einem Rätekommunisten, Werkzeugmacher und Arbeiterintellektuellen, der 1926 aus Deutschland in die USA auswanderte. Seine übrigens ganz und gar nicht utopisch gemeinte Antwort fiel eindeutig aus: »Im Moment nur eins: die ausschließliche Bezugnahme auf ihre eigenen direkten Interessen, ohne Rücksicht auf den Stand der kapitalistischen Wirtschaft. Durch Streik und direkte Aktion sollten die Arbeiter in der Krise wie in der Prosperität versuchen, ihre Lebenslage auf Kosten des Mehrwerts zu verbessern oder wenigstens versuchen, es dem Kapital unmöglich zu machen, die Krise auf Kosten der Arbeiter zu überwinden. Der Klassenkampf, der das Kapital an seinem Lebensnerv, dem Profit, bedroht, wird notwendigerweise zu einem politischen Kampf.« Und er wird, wie so oft, ohne die Gewerkschaften geführt werden.
Quelle: jungle-world.com vom 8.Oktober 2003