Politische Perspektiven der Gewerkschaften zwischen Opposition und Kooperation
Für eine neue Debatte über alte Grundwerte

Ingrid Kurz-Scherf/Bodo Zeuner*

Das „Dazwischen" als Existenzweise der Gewerkschaften

Die Position der deutschen Gewerkschaften in und gegenüber der gegenwärtigen Phase des grundlegenden sozio-ökonomischen Wandels schwankt zwischen der Verteidigung der Errungenschaften der Vergangenheit und der Mitwirkung an einer umfassenden Restrukturierung der modernen Gesellschaften. In dieser widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von Opposition und Kooperation setzt sich die alte Ambivalenz der Gewerkschaften als „Gegenmacht" und „Ordnungsfaktor" fort; sie ist aber gleichzeitig Ausdruck des strukturellen Problems der Gewerkschaften als einer Vermittlungsagentur unterschiedlicher und widersprüchlicher Interessen - und zwar nach innen wie nach außen - in einer Situation des grundlegenden Wandels von Interessenkonstellationen, Handlungsbedingungen und -herausforderungen.

Politikwissenschaftlich lassen sich die Gewerkschaften als „intermediäre Institutionen" beschreiben, wobei die Pole, zwischen denen „mediiert", Mitte oder Vermittlung gesucht wird, verschiedenartig und vielfältig sind: Kapital und Arbeit, Staat und Gesellschaft, Politik und Ökonomie, Demokratie und Kapitalismus, Arbeitswelt und Lebenswelt. Die Gewerkschaften stehen zwischen verschiedenen und widersprüchlichen Strukturierungsprinzipien und Handlungslogiken der modernen Gesellschaften, und dieses „Dazwischen" prägt sowohl ihre Eigentümlichkeit wie auch ihre internen und externen Ambivalenzen. Die Gewerkschaften sind aus einer sozialen Bewegung hervorgegangen, aber den Charakter einer Bewegung haben sie im Zuge ihrer „Befestigung" (Götz Briefs) und Institutionalisierung weitgehend verloren. Gewerkschaften sind keine politische Partei, aber sie stehen traditionell in enger Verbindung mit sozialdemokratischen, sozialistischen, kommunistischen Parteien oder auch mit Arbeitnehmerflügeln in christlichen Parteien. Westliche Gewerkschaften agieren auch dem eigenen Selbstverständnis nach auf der Grundlage und im Rahmen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung und einer „bürgerlichen", auch „liberal" genannten Demokratie. Aber die Gewerkschaften sind dennoch nicht nur Funktions- und Vermittlungsbedingung der kapitalistischen Ökonomie und der „bürgerlichen" Demokratie, sondern sie repräsentieren diesen gegenüber auch eine „dritte Kraft" jenseits von Markt und Staat, mehr oder minder zaghafte oder ausgebaute Ansätze von sozialer Ökonomie und sozialer Demokratie im ökonomischen System der kapitalistischen Marktwirtschaft und im politischen System der Staatsdemokratie.

Gewerkschaften sind ein Teil dessen, was in politik- und gesellschaftswissenschaftlichen Debatten unter Begriffen wie „Dritter Sektor", „Drittes System" oder auch „Zivilgesellschaft" diskutiert wird. Diese Begriffe suggerieren allerdings die Vorstellung klar gegeneinander abgegrenzter Sphären, Welten oder Subsysteme in den modernen Gesellschaften, die weder für die Gewerkschaften noch für andere Kräfte, Institutionen, Bewegungen, Handlungszusammenhänge oder Diskurse zutrifft, die gemeinhin dem „Dritten Sektor", dem „Dritten System" oder der Zivilgesellschaft zugeordnet werden. Dennoch gibt es in den modernen Gesellschaften zweifellos eine Ebene oder eine Komponente sozialer Realität und sozialen Handelns, die jedenfalls nicht vollständig determiniert ist durch die kapitalistische Wirtschaftsordnung und die diese absichernden Staatsapparate. Auch die „bürgerliche" Demokratie ist nicht nur Funktionsbedingung oder „schöner Schein" einer kapitalistischen Herrschaftsordnung, sondern sie wurde dieser auch in zum Teil harten Auseinandersetzungen abgerungen. Dies gilt erst recht für die nicht nur in der kapitalistischen Herrschaftsordnung, sondern auch gegen sie durchgesetzten Komponenten von sozialer Ökonomie und sozialer Demokratie in den modernen Gesellschaften. Dazu gehören die Gewerkschaften selbst als eine gesellschaftlich und politisch anerkannte Institution der Interessenvertretung abhängig Beschäftigter; dazu gehört die Tarifautonomie als ein außerparlamentarisches und überbetriebliches Verhandlungssystem über Arbeitsbedingungen und –verhältnisse; dazu gehören die Betriebs- und Unternehmensverfassung mit dem Prinzip der Mitbestimmung; das System sozialer Sicherheit und dessen tripartistische Struktur und dazu gehören schließlich auch die korporatistischen Elemente von Regierungspolitik.

Zu den von den Gewerkschaften repräsentierten Komponenten einer „dritten Kraft" in den „kapitalistischen Demokratien des Westens" (Offe) gehörten ehemals auch die gewerkschaftliche Gemeinwirtschaft und die nicht zuletzt von den Gewerkschaften beförderte Arbeiterkultur einschließlich ihrer Bildungseinrichtungen, die allerdings zum Teil (Gemeinwirtschaft) auf verhängnisvolle Weise gescheitert sind und sich zum anderen Teil weitgehend in das Bildungssystem oder den Freizeit- und Kulturbetrieb der modernen Gesellschaften aufgelöst haben. Damit ist allerdings die Idee alternativer Organisationsformen von Arbeit oder die einer emanzipatorischen Bildungs- und Freizeitkultur keineswegs aus den modernen Gesellschaften verschwunden, sie haben sich in ihrer Praxis nur weitgehend von den Gewerkschaften gelöst.

Die Gewerkschaften sind in erster Linie Interessenvereinigung - traditionell und immer noch vorrangig verankert in der Facharbeiterschaft und in industriellen Großbetrieben. Sie vertreten die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber den Arbeitgebern und gegenüber dem Staat. Als Mitgliederorganisationen unterliegen sie Tendenzen der Oligarchisierung und der Bürokratisierung einschließlich der Verselbständigung des Funktionärsapparats gegenüber der „Basis". Andererseits repräsentieren die Gewerkschaften aber gerade als eine im sozialen Gefüge der modernen Gesellschaften vor allem in Kontinentaleuropa fest verankerte Institution zumindest dem eigenen Selbstverständnis nach keineswegs nur die partikularen Interessen beispielsweise der Facharbeiterschaft, sondern auch die allgemeinen Belange abhängiger Erwerbstätigkeit oder gar von Arbeit schlechthin. Insofern sind die Gewerkschaften eben nicht nur ein Interessenverband, ein Arbeitnehmer-ADAC oder eine Lobby der Arbeitsplatzbesitzer, sondern sie artikulieren und repräsentieren - wiederum zumindest dem eigenen Anspruch nach - eine zentrale Dimension der sozialen Frage, wenn nicht sogar die soziale Frage schlechthin.

Das strukturelle „Dazwischen" der Gewerkschaften wird in der aktuellen Phase eines raschen und umfassenden Wandels gleichsam verdoppelt und dynamisiert. In der gegenwärtigen „Zwischenzeit" ändern sich die Bedingungen, unter denen Gewerkschaften operieren, die Herausforderungen, mit denen sie dabei konfrontiert sind, wie auch die Gewerkschaften selbst. Nicht nur die Gewerkschaften befinden sich in einem Schwebezustand zwischen „nicht mehr" und „noch nicht", in dem sich die Erosion des Vergangenen mit einer großen Unsicherheit über das Zukünftige überkreuzt. Gerade was den Struktur- und Bedeutungswandel von Arbeit - also dem primären Handlungsfeld der Gewerkschaften - betrifft, wird die aktuelle Ära oft mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft verglichen, die nun ihrerseits durch eine neue Formation von „Gesellschaft" abgelöst werde. Allerdings ist noch längst nicht klar, „wohin die Reise geht", was an die Stelle der Industriegesellschaft treten kann und soll, und welche Rolle Gewerkschaften in der neuen Dienstleistungs-, Informations-, Medien-, Wissens- oder „Was-auch-immer"-Gesellschaft spielen wollen, können und sollen. Gewerkschaften sind einer Vielzahl von äußeren Einflussfaktoren ausgesetzt, aber sie befinden sich auch in einem Prozess der inneren Restrukturierung und Reformierung - teils im Sinn der Anpassung an veränderte Konstellationen und Bedingungen gewerkschaftlichen Handelns, teils aber auch im Sinn der Eröffnung neuer Handlungsspielräume und der aktiven Einflussnahme auf den sich zurzeit vollziehenden Wandel. Auch die Gründung von ver.di ist Teil einer neuen Positionierung der Gewerkschaften in und gegenüber der aktuellen „Ära der Transformation", bei der es u.a. darum geht, ob die Gewerkschaften in dem hier skizzierten „Dazwischen" aufgerieben werden und sich aufreiben lassen oder ob sie gerade daraus auch neue Kräfte und neuen Elan schöpfen können.

Gewerkschaftsschwund?

„Ver.di" - das klingt immerhin schon einmal nach etwas Neuem, nach einer gelungenen Synthese zwischen italienischer Oper und Internet, nach Technik und Kultur, nach Tradition und Modernisierung. Zunächst einmal ist ver.di aber (noch?) nicht das Produkt einer Reaktivierung und Revitalisierung der Gewerkschaftsbewegung; ver.di ist groß, immerhin eine der größten Einzelgewerkschaften der Welt; aber die Größe von ver.di ist nicht das Resultat eines anhaltenden oder neuen Zustroms zu den Gewerkschaften und der ihnen daraus erwachsenden Stärke. Ver.di ist das Resultat einer zunächst einmal nur „apparatmäßigen" und nicht „bewegungsmäßigen" Bündelung schwindender Kräfte, nicht die organisationspolitische Konsequenz einer programmatisch-strategischen Neuorientierung der Gewerkschaften nach dem Prinzip „structure follows strategy". Vielleicht wurden und werden mit ver.di die strukturellen Voraussetzungen für eine programmatisch-strategische Erneuerung gewerkschaftlicher Politik geschaffen, aber zunächst einmal wurde nur der alte Wein von ÖTV, HBV, IG Medien, DPG und DAG in die neuen Schläuche von ver.di umgefüllt. Alter Wein kann bekanntlich eine höchst kostbare Flüssigkeit sein, und oft kann er sein Aroma auch nur in neuen Schläuchen entfalten - nicht jedoch, wenn er schon schal geworden ist. Außerdem sind Gewerkschaften nun einmal keine Weinkellerei, die im Übrigen auch nicht nur von der Kultivierung alter Jahrgänge leben kann, sondern Institutionen sozialen und politischen Handelns - und die leben letztendlich nicht von der Struktur ihrer Gremien, sondern von der Substanz ihrer Konzepte und deren Verankerung in den Interessen der Menschen, die sie vertreten und sich in ihnen engagieren.

Es hat keinen Sinn, sich darüber hinwegzutäuschen, dass die Frage nach der Zukunft der Gewerkschaften durchaus auch die Möglichkeit ihres allmählichen „Entschwindens" (Dahrendorf) enthält - nicht im Sinn einer vollständigen Auflösung der Gewerkschaftsapparate, wohl aber im Sinn eines weitreichenden Bedeutungsverlustes von Gewerkschaften sowohl als Gegenmacht wie auch als Ordnungsfaktor, sowohl in gesellschafts- wie auch in interessenpolitischer Perspektive, sowohl als Vermittlungsagentur von Kapitalismus und Staatsdemokratie wie auch als Repräsentanten einer „dritten Kraft" jenseits von Markt und Staat.

Die Größe von ver.di könnte leicht einer gefährlichen Selbsttäuschung des dieses Unterfangen zunächst einmal vorrangig repräsentierenden Gewerkschaftsapparats Vorschub leisten - ähnlich jener Selbsttäuschung im Zuge der Übernahme der DDR-Gewerkschaften in die DGB-Gewerkschaften nach der deutsch-deutschen Vereinigung, die Letzteren zwar kurzfristig einen gewaltigen Mitgliederzuwachs bescherte, der dann aber in seiner organisationspolitischen Substanz und vor allem hinsichtlich der dauerhaften Aufstockung des gewerkschaftlichen Mitgliederpotenzials (einschließlich der damit verbundenen finanziellen Ressourcen) bei weitem überschätzt wurde. Eines der Hauptprobleme der Gewerkschaften ist der sich schon seit langem abzeichnende und mittlerweile auch kaum mehr zu verdrängende Mitgliederschwund. Ver.di ist wie andere Gewerkschaftsfusionen nicht zuletzt auch (!) eine vorrangig organisatorische Maßnahme zur Kompensation des Rückgangs an Gewerkschaftsmitgliedern, durch die dieser aber selbstverständlich nicht gestoppt wird.

Einer der Gründe für den Mitgliederschwund der Gewerkschaften ist der schon seit Beginn der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu verzeichnende Rückgang der Facharbeiterschaft im Zuge des schon genauso lang anhaltenden Beschäftigungsabbaus im produzierenden Gewerbe und insbesondere in den industriellen Großbetrieben. Es gelingt den Gewerkschaften insgesamt nicht, den daraus resultierenden Mitgliederverlust durch die Organisation der Beschäftigtengruppen zu kompensieren, die im Zuge des strukturellen Wandels der Industriegesellschaft an Bedeutung gewinnen. Die Gewerkschaften stehen nicht nur vor dem Problem ihrer mangelnden Attraktivität für die so genannten „neuen Arbeitnehmer" oder gar die „neuen Arbeitskraftunternehmer" (Pongratz/Voß) in „neuen Arbeitswelten", sondern in ihrer Struktur und Kultur als Arbeiterorganisation und „Arbeitnehmerpatriarchat" (Pinl) finden sie auch nur sehr schwer Zugang zu den Angestellten, und der zunehmende Anteil von Frauen an der Erwerbsbevölkerung geht auch an ihnen vorbei. Nicht zuletzt schwächen neben der hohen Arbeitslosigkeit auch die wachsende Anzahl nur noch teilzeitig, geringfügig und/oder diskontinuierlich Beschäftigter, der Zuwachs von realer und scheinbarer Selbständigkeit und das Zerfasern der betrieblichen Arbeitszeitsysteme das Organisations- und Mitgliederpotenzial der Gewerkschaften. Vor allem aber droht den Gewerkschaften ein allmähliches „Entschwinden", weil ihnen in dramatischem Umfang der Nachwuchs fernbleibt, und sie so in ein bis zwei Generationen einfach ausgestorben sein könnten.

Der Mitgliederschwund der Gewerkschaften ist das Resultat einer Vielzahl von auf komplexe Weise miteinander verwobenen Ursachen und Faktoren. Einige entstehen durch externe Herausforderungen - neben den bereits genannten beispielsweise auch Arbeitgeberstrategien des Outsourcing, der Deregulierung, Privatisierung und Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen und –verhältnisse. Aber auch in Bezug auf den extern induzierten Mitgliederrückgang müssen die Gewerkschaften sich den Mangel an angemessenen „responses" für diese „challenges" letztendlich selber zuschreiben. Mit mehr Phantasie, Flexibilität und Blick für das Wichtige könnten sie auch freien Mitarbeitern und Beschäftigten von Call Centern eine Organisationsperspektive oder doch wenigstens Information und Ermutigung bei der Wahrnehmung elementarer Rechte bieten. Andere Ursachen wie die mangelnde Attraktivität der Gewerkschaften für Jugendliche und Frauen sind in noch stärkerem Maße selbst produziert - beispielsweise durch verstaubte Rituale, verkrustete Strukturen und vor allem durch eine autoritäre Kultur männlicher Dominanz und Ignoranz.

Es gibt in den Gewerkschaften und ihren Apparaten in Deutschland und anderswo durchaus kreative Ideen und erfolgreiche Beispiele für den Umgang mit den genannten Problemen: Organizing nach britischen oder US-amerikanischen Vorbildern; mobile und flexible Beratung und Ermutigung für Beschäftigte von Privatmedien z.B. durch connexx.av, ein Projekt der IG Medien und der DAG; Öffnung für neue Bündnisse (z. B. mit Arbeitsloseninitiativen) und Aktionsformen (z.B. Boykottdrohung bei bestimmten Handelsunternehmen mit menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen). Das Problem solcher Ansätze in den deutschen Gewerkschaften ist aber, dass sie für sich mit dem Etikett „unkonventionell" werben müssen, was ja bedeutet, dass die „Konvention", das übliche und für normal gehaltene Verhalten, ganz anders ist. Es gibt nicht nur ein immer fiktiver werdendes „Normalarbeitsverhältnis", sondern auch ein „Normalapparatsverhalten", das auf dieser Fiktion aufbaut, selber real weiterexistiert, sich dabei aber immer weiter von der sich ändernden Realität entfernt und daher für die Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften zunehmend zum Hindernis wird.

Dem ließe sich entgegenhalten, dass die Gewerkschaften, jedenfalls in Deutschland, ihre Zukunft durchaus auch auf der Kontinuität eben dieses „Normalapparats" und seiner systemischen, vielleicht ein wenig professionalisierten, Funktionserfüllung aufbauen könnten, selbst wenn sie dabei weiter Mitglieder verlieren. Denn dieser Normalapparat bezieht seine Ressourcen und seine Legitimation großenteils aus seiner Rolle in der vermittelnden Funktion des eingangs skizzierten „dritten Systems", in dem allerdings heute in Deutschland die Tendenzen der Staatsorientierung und des Korporatismus - vergleiche Schröders „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" - einerseits und der Kommerzialisierung andererseits eindeutig gegenüber den Tendenzen zur nicht-marktlichen und nicht-staatsbürokratischen Selbstorganisation überwiegen. Gewerkschaften wären demnach also zu ihrer Bestandserhaltung weniger auf ihre Mitgliederzahlen und ihren Organisationsgrad angewiesen, sondern viel eher auf andere Organisationsressourcen wie: ihren politischen Einfluss auf Regierungen und Parlamente, ihren in öffentliche Debatten einbringbaren Sachverstand, ihre Anerkennung als öffentliche Institution, ihre Medienpräsenz und Umfragenakzeptanz, ihre Befugnis zur Besetzung von Positionen in einer Vielzahl von Regulierungs- und Vertretungsinstanzen von den Arbeitsgerichten über die Sozialversicherungen und die Rundfunkräte bis zu den Kuratorien der Hochschulen, schließlich und vor allem ihr Recht auf Mitbestimmung in Unternehmen und Betrieben durch Aufsichtsratsmitglieder und Betriebsräte.

Der Einwand, dass den Gewerkschaften nun aber doch, wenn ihnen der Nachwuchs wegbleibt, das Personal für die Besetzung dieser zahlreichen Posten und Positionen fehlen wird, stimmt nur partiell: Die Gewerkschaften können ihre Einflusspositionen in Politik und Wirtschaft auch an mehr oder weniger nahe stehende Nicht-Mitglieder delegieren und ihre Kampagnen von professionellen Agenturen organisieren lassen, und sie tun dies ja auch schon längst. Stichhaltiger ist das Argument, dass Gewerkschaften auch im - trotz aller Globalisierung und aller neoliberalen Hegemonie immer noch hochkorporatistisch organisierten - deutschen System letztlich ihre Positionen in Staat und Wirtschaft nur einer einzigen Ressource verdanken, nämlich ihrer mindestens latenten und von ihnen im Zweifel auch aktivierbaren und mobilisierbaren sozialen Macht. Warum sonst, wenn nicht aus Angst vor kollektiver Resistenz oder sich in spontanen Streiks entladender Wut der Beschäftigten, sollten Arbeitgeber sich auf Mitbestimmung durch Belegschaftsvertreter einlassen? Warum sollten sie Tarifverträge mit den Gewerkschaften abschließen, wenn nicht aus der Furcht, sonst entstünden unkalkulierbare Konflikte? Gewerkschaften sind als Ordnungsfaktor nur so lange für Unternehmen und Staat interessant, wie sie Ordnung auch garantieren, ihre Mitglieder also zur Einhaltung der von ihnen getroffenen Abkommen verpflichten können. Verpflichtungsfähig sind Gewerkschaften aber eben nur gegenüber ihren Mitgliedern und auch dies - jedenfalls in westlich-demokratischen Systemen - nur dann und nur so lange, wie Gewerkschaften im Sinne ihrer Mitglieder handlungs- und konfliktfähig bleiben - Gewerkschaften bleiben also auf eine kollektiv handlungsfähige Mitgliederbasis, die mehr ist als die Kundenkartei eines Dienstleistungsunternehmens, angewiesen.

„Entschwinden" der Gewerkschaften kann im hochkorporativen deutschen System auch durch andere Faktoren als durch den Mitgliederschwund befördert werden, insbesondere durch die Auflösung zentraler Elemente und Scharniere des korporativen „Modells Deutschland". Dazu gehört die Erosion der Branchen- und Flächentarifverträge und die „Verbetrieblichung" oder besser „Verbetriebsrätlichung" des kollektiven Vertragswesens. Betriebsräte haben, das ist spezifisch deutsch, kein Recht, Arbeitskämpfe gegen den Arbeitgeber zu führen, selbst dann nicht, wenn sie mit dem Arbeitgeber um die konkrete Ausgestaltung von Tarifverträgen, die ihrerseits Ergebnisse von Kämpfen oder Kampfdrohungen sind, verhandeln. Arbeitgeber wollen immer mehr Regulierungsaufgaben auf die Betriebsräte übertragen, die von ihnen viel abhängiger sind als die Gewerkschaften.

Die deutschen Gewerkschaften könnten also nicht nur wegen Mangels an Nachwuchs, sondern auch wegen der Ablösung ihrer Funktion der kollektiven Regulierung der Arbeitsbeziehungen durch unternehmenstreue, von allen Beschäftigten gewählte und durch rechtliches Verbot am Arbeitskampf gehinderte Betriebsräte auf die Rutschbahn des Entschwindens geraten oder gedrängt werden. Aber auch hier, und hier insbesondere, wären die Gewerkschaften, das heißt ihr hauptamtlicher Apparat und ihre ehrenamtlichen Aktiven und ihre Mitglieder, selber mitverantwortlich für den Schwund, denn sie hätten auf ihrem ureigensten Gebiet, dem Ort der Arbeit, und bei ihrer elementarsten Aufgabe, nämlich Solidarität der Kolleginnen- und Kollegengruppe unabhängig vom und gegen den Arbeitgeber zu organisieren, versagt.

Wie am Beispiel des Mitgliederschwunds und der Verbetrieblichung gezeigt, vermuten wir auch allgemein, dass in der gegenwärtigen Debatte über die Zukunft der Arbeitswelt und der kollektiven Interessenvertretung, mithin also auch der Gewerkschaften, der Eigenanteil der Gewerkschaften an ihren Problemen und damit auch die mögliche Eigenleistung der Gewerkschaften bei der Überwindung ihrer gegenwärtigen Krise viel zu gering veranschlagt wird. In einfachen Worten: Die deutschen Gewerkschaften sind an vielem selber schuld, und sie könnten auch viel mehr selber tun.

Das gilt im Übrigen auch weltweit. Einerseits trifft es zu, dass überall abhängig Arbeitende und ihre Gewerkschaften von den dominanten Tendenzen der Globalisierung und der ideologischen Hegemonie des Neoliberalismus betroffen sind. Verlust von Gegenmacht und auch von Beteiligungsmacht, Deregulierung, Entkollektiverung der Arbeitsbeziehungen, Privatisierung öffentlicher Aufgaben, Dienste und Unternehmen und Zwang zum concession bargaining, also zum Abschluss verschlechternder Tarifabkommen, sind, wie z.B. der Erfahrungs- und Erkenntnisaustausch von Wissenschaftlern auf dem Weltkongress der International Industrial Relations Association im Mai 2000 in Tokyo ergab, weltweit durchgehende und einander durchaus im Sinne einer Unterbietungsspirale verstärkende Phänomene.

Andererseits gibt es klare Anzeichen für eine revitalization, eine Wiederbelebung also, der Gewerkschaften als Bewegungen gerade in den Ländern, in denen sie wegen des dort politisch, ökonomisch und ideologisch herrschenden Neoliberalismus schon totgesagt worden waren: in USA und Großbritannien. Über Great Britain schreiben Heery u.a.: „Paradoxerweise hat es, während die meisten Indikatoren auf einen Machtverlust der britischen Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten hindeuteten, eine Wende vom Determinismus zum Voluntarismus in den Theorien über die Gewerkschaften gegeben." Auch und gerade während die reale Macht der britischen Gewerkschaften zurückging, hätten Gewerkschaftsforscher entdeckt, dass „Gewerkschaften bedeutsame strategische Entscheidungen treffen können und dass sie, mindestens teilweise, Architekten ihres eigenen Schicksals sind".

Wir folgen dieser für die Gewerkschaften ermutigenden These. Wir wollen diese These zunächst gegen einen der Selbstentschuldigung dienenden Determinismus von „Globalisierung" und - fast schon als magisch wahrgenommener – „Hegemonie" des Neoliberalismus verteidigen, dann wollen wir mit der Unterscheidung von exklusiver und inklusiver Prosperität und Solidarität zu der Frage Stellung nehmen, von welchen Werten sich die Gewerkschaften bei Ihrem Handeln als Architekten des eigenen Schicksals leiten lassen können und sollen. Abschließend werden wir anlässlich der Gründung von ver.di noch einige Anmerkungen zur Zukunft des DGB machen.

„Im Zeitalter der Globalisierung"

„Im Zeitalter der Globalisierung" - dieser allgegenwärtige Hinweis auf die neue Weltwirtschaft ist schon seit einiger Zeit zum absolut beherrschenden Signum der aktuellen Ära avanciert. Die Popularität der Globalisierung verdankt sich dabei nicht zuletzt auch dem weitverbreiteten Hang zur „Externalisierung interner Inkonsistenzen" (Luhmann) und zur Entlastung von internen Problemkonstellationen nach der Methode des scape goating , also der Suche nach einem Sündenbock - so auch bei den Gewerkschaften. Nicht dass die mit dem schillernden Schlagwort „Globalisierung" bezeichneten Prozesse die Gewerkschaften nicht auch vor grundlegend neue Herausforderungen stellten und ihnen erhebliche Probleme sowohl auf betrieblicher wie auch auf tariflicher und sozialpolitischer Ebene bereiteten. Nicht dass die Globalisierung die Gewerkschaften nicht auf durchaus bedrohliche Weise mit ihrem Defizit an inter- und transnationaler Handlungskompetenz konfrontierte, das sie dringend auch zur Rückgewinnung von „lokalen" Handlungsspielräumen angehen müssen.

Aber der Mitgliederschwund der Gewerkschaften, die manchmal einfach nur noch dreiste Tumbheit der Gewerkschaftsapparate, die kontrollieren wollen, wo die Menschen Kontrolle weder wollen noch brauchen, und die steuern und befehlen wollen, wo sie erst einmal selber zuhören müssten - dieses schlechte Erbe der preußisch-deutschen Kultur unserer Arbeiterbewegung mit seinen negativen Konsequenzen für die aktuelle Situation der Gewerkschaften hat seine Ursache eben nicht nur in den veränderten Konstellationen an den Weltmärkten. Wenn es den Gewerkschaften gelänge, in Kooperation mit anderen sozialen Kräften und Bewegungen eine wirksame soziale Opposition gegen den neuen Turbokapitalismus auf inter- und transnationaler Ebene aufzubauen, würde dies ihre Attraktivität und ihr standing „vor Ort" vielleicht verbessern, jedenfalls in dem Sinne, dass die noch sehr lokal denkenden Kolleginnen und Kollegen lernen könnten, wie kurzsichtig ein nationaler Standortkorporatismus ist. Grenzüberschreitende gegenseitige Besuche von BelegschaftsvertreterInnen derselben Branche haben schon oft dazu beigetragen, transnationale Konkurrenz zu mindern, wenngleich nicht zu beseitigen.

Umgekehrt werden die deutschen Gewerkschaften ohne eine Reaktivierung und Revitalisierung als eine in den konkreten Arbeits- und Lebenswelten der Menschen verankerte soziale Institution auch auf inter-, trans- und supranationaler Ebene nicht die Kraft einer wirksamen sozialen Opposition entfalten können. Gewerkschaften sollten sich „glokalisieren". Die Parole der Ökologiebewegung „Global denken, lokal handeln!" gilt auch für sie - allerdings mit der Zuspitzung, dass tendenziell jedes „lokale" Handeln auf Grund der globalisierten Konkurrenz automatisch weltweite Folgen hat, die von den Akteuren entweder mit bedacht oder bewusst oder unbewusst verdrängt werden können. Die Selbstreduktion der Menschen und auch der kollektiven Akteure auf die Rolle des Markt-Teilnehmers, etwa nach dem Motto „Jeder muss sich selbst als Wertpapier begreifen" ist die perfekteste Form der Verdrängung jeder Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns auf andere so wie das „Prinzip Markt" ja ohnehin die vollendete Form organisierter Verantwortungslosigkeit ist.

In dieser Formel wird auch auf vorzügliche Weise die zentrale Botschaft der herrschenden neoliberalen Ideologie zusammengefasst. Diese Ideologie mit ihrer Dreifaltigkeit aus Deregulierung, Privatisierung und Flexibilisierung und ihrem ebenso elitären wie autoritären Ungleichheitspostulat ist nicht zuletzt ein Anti-Gewerkschaftsprogramm, das nicht nur auf die Entmachtung der Gewerkschaften, sondern auch auf die Entsorgung aller sozialen Ansprüche an die ökonomische und technologische Entwicklung zielt. Zweifellos befinden die Gewerkschaften sich in der Defensive gegenüber dem so genannten Neoliberalismus - auch deshalb, weil dessen Hegemonie auch die Vorstellungswelt der Mitglieder und Funktionäre der Gewerkschaften beeinflusst, wenn nicht gar prägt.

Trotzdem unterliegt dem Neoliberalismus-Diskurs ähnlich wie dem Globalisierungsdiskurs auch eine Tendenz jener „Externalisierung interner Inkonsistenzen" und des scape goating - jedenfalls insofern als der Neoliberalismus vorrangig nur als äußere Bedrohung der Gewerkschaften und nicht auch als ein interner Konflikt in den Gewerkschaften thematisiert wird. Zudem wird in den Gewerkschaften selten nach den Entstehungsbedingungen der Hegemonie des Neoliberalismus gefragt. Könnte diese – weltweite - Hegemonie nicht auch ein Reflex auf - ebenfalls weltweite - Defizite und Mängel der eigenen Konzepte und Strategien von Gewerkschaften und Arbeiterparteien (Labour Parties) sein? Gewerkschaften, die als geschlossene Männerbünde agieren, die die Situation ihrer Mitglieder durch den Ausschluss von Konkurrenten verbessern, die sich mit den Kapitalen „ihrer" Branche oder den Regierungen „ihres" Staates zu Bündnissen gegen die „Kollegen" anderer Branchen und Länder zusammenschließen, sind nicht erst Produkte von globalisierter, weltweit verschärfter Konkurrenz und neoliberaler Hegemonie. Sie haben etwas zu tun mit der Zweischneidigkeit des für die Gewerkschaften elementaren Funktionsgrunds und Grundwerts: der Solidarität.

Von der inklusiven zur exklusiven Prosperität und Solidarität?

Praktisch hat Solidarität immer eine inklusive und eine exklusive Komponente. Auch gewerkschaftliche Solidarität ist nicht allumfassend. Sie ist vielmehr begrenzt auf bestimmte Interessen und eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, und schließt somit andere Interessen und andere Bevölkerungsgruppen, z. B. die Arbeitgeber, aus. Dem Anspruch nach vertreten die Gewerkschaften jedoch ein Arialelles Konzept von Wohlstand und Wohlergehen - auch wenn sie in der Praxis der von ihnen organisierten Solidarität seit jeher eines zu eng gefassten Interessenbegriffs und einer letztendlich partikularistischen Interessenpolitik - beispielsweise „auf Kosten von Frauen" - bezichtigt werden. Immerhin waren die Gewerkschaften aber maßgeblich beteiligt an jener Nachkriegsentwicklung in den westlichen Wohlstandsgesellschaften, die Ulrich Beck mit dem Begriff des „Fahrstuhleffekts" beschrieben hat, nämlich einer allgemeinen Anhebung des Lebensstandards der Bevölkerung, durch den die weiterbestehende Ungleichheit relativiert wurde. Diese Anhebung betraf nicht nur das Einkommen, sondern auch die Bildung sowie politische und kulturelle Partizipation. Burkart Lutz hat in diesem Zusammenhang vom „kurzen Traum der ewig währenden Prosperität" gesprochen, und tatsächlich ist dieser Traum, jedenfalls was den darin enthaltenen „Fahrstuhleffekt" betrifft, schon seit einiger Zeit ausgeträumt. Das gewerkschaftlich-keynesianische Konzept inklusiver Prosperität wurde durch das neoliberale Konzept exklusiver Prosperität ersetzt, an dem immer größere Teile der Bevölkerung keinen oder nur mehr einen in vielerlei Hinsicht prekären Anteil haben. In dieser Situation stellt sich auch für die Gewerkschaften die Frage, wen sie einschließen und wen sie ausschließen wollen, mit neuer Schärfe.

Solidaritätstheoretiker (z.B. Bayertz, Rorty) sagen völlig zu Recht, dass niemand mit der ganzen Menschheit solidarisch sein könne. Solidarität beruht auf gemeinsamen Interessen, auf dem Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe, auf gemeinsamen Werten, auf dem Kalkül, dass ich mögliche kurzfristigen Vorteile zugunsten gemeinsamer Ziele zurückstelle, in der Erwartung, dass die anderen dies in ähnlichen Situationen auch täten und dass sie ebenfalls diese Erwartung haben und dass dabei Vertrauen aufgebaut wird. Insbesondere in den Arbeitsbeziehungen bedeutet Solidarität das Zusammenstehen, weil jede und jeder Einzelne auf sich gestellt die von der Gegenseite drohende Gefährdung nicht abwehren könnte. Solidarität ist insofern das Gegenteil von Markt- und Konkurrenzverhalten. Darin liegt ein politisches Erfahrungspotenzial, das für eine menschlichere Gesellschaft genutzt werden kann, das aber nicht von selber humanisierend wirkt.

Die von den Gewerkschaften organisierte Solidarität war im Prinzip immer sowohl inklusiv als auch exklusiv. Gewerkschaften sind immer Abwehrorganisationen gegen die totale Konkurrenz gewesen, und ein Mittel der Konkurrenzabwehr ist die Regulierung des Zugangs zum Arbeitsmarkt. Der ruhmreiche Verband der Deutschen Buchdrucker, Vorgänger der IG Druck und Papier und der IG Medien und damit auch von ver.di, hat mit dieser Strategie der Marktregulierung im Verein mit den Unternehmern jahrzehntelang hervorragende Ergebnisse in der Tarifpolitik erzielt - für eine begrenzte Gruppe von Arbeitern, die absichtlich klein gehalten wurde und aus der Frauen noch bis in die zwanziger Jahre hinein fern gehalten wurden.

Exklusive Solidarität dieser Art muss nicht von vornherein moralisch fragwürdig sein, und sie ist in gewissem Umfang unvermeidlich. Man kann von Betriebsräten am Standort A nicht erwarten, dass sie freudig zustimmen, wenn Arbeitsplätze an den Standort B verlagert werden, wo diese Arbeitsplätze „objektiv gesehen" vielleicht noch dringender gebraucht werden. Aber diese exklusive Solidarität hat immer eine offene Flanke nach rechts - zur Konstruktion von Feindbildern samt entsprechendem Verhalten. Dass Frauen gleichberechtigt nach Erwerb streben, wird dann zur „Schmutzkonkurrenz", und Parolen wie „Ausländer raus", „Arbeit nur für Deutsche" etc. sind mögliche Konsequenzen. Exklusive Solidarität gibt es natürlich erst recht bei Rassisten und Nationalisten.

Den anderen Weg, den der inklusiven Solidarität, der Ausweitung des Kreises, für den frau und man einsteht, sind GewerkschafterInnen auch schon immer gegangen, und er ist heute genauso möglich.

Denn zum einen wächst der Stand von Bildung und Aufklärung weltweit. Solche Ideen wie die aus der US-Unabhängigkeitserklärung „that all men are created equal" haben immer noch motivierende Kraft und werden spätestens seit der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen von 1948 Arialal verstanden, wirklich für alle Menschen, während für die US-Founding Fathers die Indianer, die Neger und die Frauen noch gar nicht dazu gehörten.

Zum Zweiten spricht für die Chance einer inklusiven Solidarität, die möglichst viele und tendenziell alle auf Erwerbsarbeit angewiesenen Menschen in der ganzen Welt einschließt, auch das Interessenkalkül der Gewerkschaften. Angesichts der Internationalisierung der Produktion und der Konkurrenz muss sich die von den Gewerkschaften organisierte Solidarität ebenfalls internationalisieren, sonst ist die Organisation der abhängig Arbeitenden der Gegenseite nicht mehr gewachsen. Die Antwort der Gewerkschaften auf Individualisierung und Globalisierung kann also nicht sein, für privilegierte kleine Gruppen Solidarität zu organisieren und damit national und international die Konkurrenz zwischen den Gruppen noch anzuheizen. Denn das schadet allen. Wenn Gewerkschaften aus den Hochlohnländern sich für die graduelle Erhöhung von Einkommen und sozialen Standards und für Gewerkschaftsrechte in den Niedriglohnländern einsetzen, dann nützen sie ihren eigenen Mitgliedern, denn sie vermindern das Gefälle, aus dem der globale Konkurrenzdruck entsteht. Und wenn die Gewerkschaften in Europa oder USA selber auf Lohn oder Standards verzichten, dann nützt das den GewerkschaftskollegInnen in Brasilien und Südafrika gar nichts, im Gegenteil geraten die dann unter weiteren Absenkungsdruck, um ihren Standortvorteil der niedrigen Lohnkosten zu erhalten.

Es gibt also gute moralische und interessenbedingte Gründe für eine Gewerkschaftspolitik der inklusiven Solidarität, einer Politik, die dem Grundsatz folgt, dass Menschen nur gut leben können, wenn alle anderen Menschen auch gut leben können. Das gilt nicht nur weltweit, sondern natürlich auch in der sich zunehmend zerklüftenden deutschen und europäischen Gesellschaft. Gewerkschaften haben die Chance, zu Organisationen der Solidarität aller auf abhängige Arbeit angewiesenen Menschen zu werden, gleichgültig ob diese sich in einem Normalarbeitsverhältnis, in einem prekären Arbeitsverhältnis, im Status der Scheinselbständigkeit oder der riskanten Selbständigkeit in Start-Up-Firmen befinden oder ob sie gerade erwerbslos sind. Alle diese Menschen haben drei Dinge gemeinsam:

· Sie müssen ihre Arbeitskraft oder ihre Arbeitsprodukte stetig verkaufen, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können;

· sie sind in ihren Lebenschancen durch die Zufälle des Marktes und durch aggressive Strategien von Kapital und Management bedroht;

· sie sind allein auf Dauer nicht stark genug, diese Bedrohungen abzuwehren, brauchen also Hilfe, Stützung, Solidarität.

Die Chance, diese sehr verschiedenen Gruppen solidarisch zusammenzubringen, erfordert von den Gewerkschaften organisatorische Phantasie, Experimentierfreude - und auch Bescheidenheit und Bündnisfähigkeit, etwa mit Arbeitslosengruppen, ohne Alleinvertretungs- und Belehrungsansprüche. Gewerkschaften, die inklusive Solidarität anstreben, müssen selber wieder mehr zu „social movements" werden.

Grundwerte

Gewerkschaften sind nicht einfach hilf- und ruderlos von ideologischem Wind und globalen Wellen Dahingetriebene, sondern sie können durchaus selber ihren politischen Kurs bestimmen. Dabei ist die Selbstvergewisserung über die eigenen Ziele und Grundwerte unerlässlich. Nichts spricht dagegen, die klassischen Richtwerte der „bürgerlichen" (natürlich: citoyen, nicht bourgeois) Revolutionen wieder aufzugreifen und zu aktualisieren: Freiheit, Gleichheit - und natürlich nicht: Brüderlichkeit, sondern - inklusive Solidarität. Von letzterem war schon die Rede. Deshalb einige Bemerkungen zu den anderen Grundwerten.

Zu Gleichheit und Gerechtigkeit: Die Sozialdemokraten der Neuen Mitte und des Dritten Weges versuchen einen prinzipiellen Gegensatz zwischen diesen Begriffen zu konstruieren. Mehr „begrenzte" Ungleichheit (W. Clement) soll mehr Wachstum und damit letztlich mehr Nutzen für alle, also „Gerechtigkeit", hervorbringen. Außerdem wird unterschieden zwischen „Chancengleichheit" und „Gleichheit im Ergebnis" (Schröder/Blair). Dabei ist „Ergebnisgleichheit" ein Phantom. Niemand in der europäischen Arbeiterbewegung hat je die totale Gleichmachung aller Menschen gefordert, und nirgendwo auf der Welt wurde sie erreicht. Chancengleichheit aber reicht nicht aus, um Gerechtigkeit zu verbürgen. Zum einen ist diese Gleichheit gar nicht gegeben, solange die Einzelnen durch Erbschaft und Familie unterschiedliche Ressourcen für den Konkurrenzkampf aller gegen alle mitbringen. Zum anderen bringt Chancengleichheit den meisten keinen Nutzen, wenn, wie beim Lotto, nur wenige die Gewinne einstreichen. Gewerkschaften sollten dem Quatsch-Gegensatz von Chancengleichheit und „Ergebnisgleichheit" in der öffentlichen Debatte entgegentreten. Sie sollten darauf beharren, dass es bei der Frage der Gerechtigkeit weiterhin um Bedarfsgerechtigkeit und um Leistungsgerechtigkeit gehen muss. Beide Gerechtigkeitsideen müssen gegen den Markttotalitarismus verteidigt werden. Der Markt führt nicht dazu, dass Menschen entsprechend ihrem Bedarf leben können, obwohl die Mittel dazu produziert werden. Der globale Markt der „Informationsgesellschaft", insbesondere der weltweite Finanzmarkt, untergräbt zudem den Zusammenhang von Leistung und Lohn/Gewinn. Wenn nur noch Spitzenleistungen Geld bringen, werden alle Durchschnittsleister zu Verlierern.

Gewerkschaften sollten sich für einen menschengerechten und demokratischen Gerechtigkeitsbegriff einsetzen. Das um sich greifende verächtliche Gerede über den Durchschnitt, über das Mittelmaß, sollte den Gewerkschaften (und wohl auch den Kirchen) endlich ein Gegenwort wert sein. Denn dieses Gerede ist antidemokratisch. In allen Gesellschaften ist die Mehrheit qua Definition durchschnittlich und mittelmäßig, sonst wäre sie nicht die Mehrheit. Zur Demokratie gehört aber das Mehrheitsprinzip. In vernünftig organisierten Gesellschaften hat diese Mehrheit auch einen Sinn dafür, dass die über sie durch von ihr anerkannte Leistungen und Fähigkeiten herausragenden Personen Anerkennung und Förderung verdienen. Wer dagegen meint, dieser Mehrheit, auch in entwickelten westlichen Gesellschaften, deshalb nicht trauen zu sollen, weil sie zu wenig Eliten, etwa „Hochbegabte", hervorbringt oder fördert, sollte zugeben, dass er das Projekt der Demokratie für gescheitert, wenn nicht gar für bekämpfenswert hält. Und wer arrogant behauptet, Mittelmaß und Durchschnitt hätten in der globalisierten Konkurrenz keine Chance mehr und das sei gut so, muss wissen, dass er die Bevölkerungsmehrheit in sozialdarwinistischer Weise zu Verlierern, die ihr Elend selber verdient haben, erklärt.

Zu Freiheit: Es wird Zeit, dass Gewerkschaften und soziale Bewegungen den liberalen Parteien und den neoliberalen Ideologen endlich das Monopol auf die Verwendung dieser Vokabel streitig machen. Für den Grundwert „Freiheit" gilt in besonderer Weise, dass, wer ihn abstrahierend ideologisiert, ihn schon verrät. Freiheit, Entscheidungsfreiheit der Person, wird einerseits in der Kommunikation zwischen Menschen als selbstverständlich vorausgesetzt. Andererseits ist Freiheit stets gefährdet, muss Befreiung von Herrschaft, mithin Emanzipation, stets neu errungen werden, und zwar gegen konkrete Bedrohungen und Gegner. Wer von Freiheit redet, ohne zu sagen, von wem und wozu er Befreiung erreichen will, verdient Misstrauen. In der neoliberalen Ideologie aber ist „Freiheit" abstrakt. Verlangt wird Befreiung gewissermaßen „von allem", vom Staat, vom Sozialstaat, vom Steuerstaat, vom Versicherungs- und Umlageprinzip, von sozialer Verantwortung, von Gemeinwohlbindung der Politik. Es gilt das Thatcher-Prinzip „Es gibt keine Gesellschaft, sondern nur Individuen." Da dieses Denken auch in die Gewerkschaften einbricht, ist es nicht überflüssig, an die 2400 Jahre alte Erkenntnis des Aristoteles, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, zu erinnern. Das heißt ja nicht nur, dass die Menschen zum Überleben aufeinander angewiesen sind, sondern vielmehr, dass sie von vornherein nur durch das Zusammenleben, die Kommunikation mit anderen, die Liebe von und zu anderen konstitutiert, zum Menschen und zum Individuum gemacht werden. Ohne diese grundlegende Sozialität würden wir nicht zu Menschen, sondern zu traurigen Existenzen heranwachsen wie jener Kaspar Hauser, der als Findelkind völlig isoliert von anderen Menschen in einem Verlies aufwuchs und dann lebensuntüchtig war, als er sich unter seine Zeitgenossen begab. In der Psychologie gibt es eine Forschungsrichtung der Kaspar-Hauser-Versuche, in denen die Folgen von totaler Isolation für Menschen oder andere Lebewesen untersucht werden. Die gegenwärtige Durchmarktung aller gesellschaftlichen Beziehungen samt entsprechender ideologischer Hegemonie des Marktradikalismus ist darauf ausgerichtet, uns alle in ein gigantisches kollektives Kaspar-Hauser-Experiment hinein zu treiben. Freiheit, heute und konkret, ist das Gegenteil dieses Experiments.

Grundwerte und Basisinteressen

Die Existenzweise der Gewerkschaften wurde einleitend als ein sowohl systematisches wie historisches „Dazwischen" beschrieben. Dem widerspricht keineswegs eine völlig eindeutige Parteinahme für Solidarität, Gerechtigkeit und ein egalitäres Konzept von Freiheit. Es besagt nur, dass Gewerkschaften diese Grundwerte in hochgradig widersprüchlich strukturierten Kontexten vertreten und realisieren müssen, und dabei in den konkreten Projekten, die sie verfolgen, immer wieder mit dem Problem von Ambivalenz konfrontiert sind. Unser Plädoyer für eine neue Debatte um alte Grundwerte zielt dabei auch keineswegs auf eine Preisgabe der Zentralität von Interessen für gewerkschaftliches Handeln zugunsten einer verstärkten Orientierung an Werten. Interessen sind vielmehr schon dem Wortsinn nach („inter" = dazwischen, „esse" = sein) der politische Kern nicht nur der Existenzweise, sondern auch des Existenzgrundes von Gewerkschaften. Interessen entstehen zwischen Menschen und sie sind eben gerade nicht nur individuelle Präferenzen, sondern kulturell und normativ vermittelte kollektive Anliegen. Freiheit, Gleichheit, Solidarität sind nicht nur „idealistische" Werte oder Ideale, sondern es gibt auch ein materielles Interesse an diesen Werten und Idealen. Und es spricht einiges dafür, dass der gesellschaftliche Tatbestand Arbeit, die Angewiesenheit jedes einzelnen Menschen auf die Tätigkeit von anderen und das Bedürfnis der meisten Menschen nach Tätigkeit für und mit anderen, die materielle Grundlage einer gleichermaßen egalitären wie freiheitlichen und solidarischen Moral ist oder zumindest sein kann, die sich eben nicht nur in allgemein geteilten Werten, sondern auch in kollektiven Interessen realisiert. Der Interessenstandpunkt von Gewerkschaften könnte ihnen damit gerade auch zu dem verhelfen, was ihnen gemeinhin am wenigsten zugetraut wird, nämlich zu moralischer und ethischer Kompetenz - so sie dies denn überhaupt ernsthaft anstreben.

Die Gewerkschaften hätten auf die Notwendigkeit einer neuen Positionierung in und gegenüber dem gegenwärtigen Wandel auch anders reagieren können, als sie dies tatsächlich, insbesondere mit jener Fusionierungswelle getan haben, aus der nun auch ver.di hervorgegangen ist - beispielsweise durch eine Stärkung des DGB als branchenübergreifender Organisation der allgemeinen Interessen abhängig arbeitender Menschen. Aus dem Mitgliederschwund und aus vielen anderen Problemen, mit denen die Gewerkschaften aktuell konfrontiert sind, hätten sie auch die Konsequenz ziehen können, dass das Prinzip der branchenspezifisch differenzierten Industriegewerkschaften der Verschmelzung der Wirtschaftssektoren und der wechselseitigen Durchdringung von Arbeits- und Lebenswelt nicht mehr angemessen ist, zumindest aber ergänzt werden muss durch nicht nur betriebs- und branchenübergreifende, sondern in stärkerem Maße auch lebensweltlich verankerte und orientierte Formen und Inhalte der Organisation sozialer Interessen an und in Bezug auf Arbeit. Die deutschen Gewerkschaften hätten gerade auch in selbstkritischer Reflexion ihres Mitgliederschwunds zu dem Ergebnis kommen können, dass es offenkundig mit der Organisation präformierter Interessen nicht (mehr) getan ist, sondern dass Gewerkschaften auch (wieder) in stärkerem Maße auf die Formierung von Interessen Einfluss nehmen müssen - und zwar nicht nur und nicht erst im Betrieb, sondern auch in Schulen und Arialitäten, in Freizeiteinrichtungen und in der Öffentlichkeit, in politischen Auseinandersetzungen um nicht unmittelbar gewerkschaftlich relevante Fragen und generell in jener Sphäre der Zivilgesellschaft, der die Gewerkschaften selber zuzurechnen sind.

Eine solche Erweiterung des gewerkschaftlichen Konzepts von Interessenpolitik, insbesondere um den Prozess der Interessenbildung, aber auch um die Berücksichtigung der Komplexität von Interessenlagen, steht keineswegs im Widerspruch zu der weiterhin prioritären Verankerung von Gewerkschaften in Betrieben und betrieblichen Arbeitsprozessen und dem weiterhin zentralen Stellenwert von Tarifpolitik. Wir gehen im Gegenteil davon aus, dass sich das Mandat und das Kompetenzspektrum von Gewerkschaften nicht beliebig verschieben und/oder erweitern lässt. Gewerkschaften sind nur als Arbeits- und Betriebspartei, als Tarifvertragspartei und als Organisation der abhängig Arbeitenden Teil der Zivilgesellschaft oder auch „Menschenrechtspartei" (Negt). Gewerkschaften können die Defizite des politischen Systems und den Substanzverlust der Programmatik politischer Parteien nicht dadurch kompensieren, dass sie sich der illusionären Selbstüberhöhung zu einer Ersatzpartei hingeben. Sie müssen allerdings zur Kenntnis nehmen, dass sich die Interessen, die sie in den Betrieben und bei Tarifverhandlungen vertreten, in zunehmendem Maße außerhalb der Betriebe und der Tarifrunden formieren, und dass diese Interessen normativ geprägt und in widersprüchlich strukturierte Kontexte eingebunden sind. Außerdem sollten die Gewerkschaften sich darauf einstellen, dass sie gerade in ihren zentralen Handlungsfeldern in zunehmendem Maße der Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Kräften und Bewegungen bedürfen, die sich weder als „Einbahnstraße" noch auf Abruf, sondern nur im permanenten Austausch erreichen lässt, und in der Gewerkschaften Solidarität nicht nur einfordern können, sondern auch praktizieren müssen. Für die Bewältigung der hier genannten neuen Herausforderungen gewerkschaftlicher Politik hätte es allerdings vor allem einer stärkenden Reform des DGB bedurft, und nicht nur starker Einzelgewerkschaften.

Die gewerkschaftliche Fusionswelle einschließlich der Gründung von ver.di liegt zunächst auf der Linie der Stärkung spezialisierter Einzelgewerkschaften und der Schwächung des zusammenbindenden Dachverbands. Ver.di bietet allerdings eine Chance, die Idee von Gewerkschaften als (Verbündete von) sozialen Bewegungen wieder zu beleben: Die Gewerkschaft der (öffentlichen und privaten) DienstleisterInnen könnte sich mit denen zusammentun, die als BürgerInnen und KundenInnen auf - vor allem öffentliche - Dienstleistungen angewiesen sind, und auf diese Weise wieder etwas mehr soziale Bewegung werden.

Erschienen in: Gewerkschaftliche Monatshefte 3/01, S. 147ff

* Prof. Dr. Ingrid Kurz-Scherf, geb. 1949 in Trier, Studium der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre in Saarbrücken und Köln, lehrt Politikwissenschaft an der Fachhochschule Bielefeld.

Prof. Dr. Bodo Zeuner, geb. 1942 in Königsberg/Ostpr., Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte, war Journalist beim NDR und beim „Spiegel", lehrt Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.

Quelle: Labournet Germany

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