Flächentarif und Globalisierung
Nachforschungen zur Krise der Gewerkschaften

Werner Sauerborn*

Im express 4/2001 hatte Ulla Lötzer über die Forderung nach einem "Vergabegesetz" berichtet, mit dem u.a. im ÖPNV dem Tarifdumping Einhalt geboten werden soll. Inzwischen hat der Bundesrat eine Initiative für ein Vergabegesetz beschlossen. Damit erhält auch die Auseinandersetzung um die Einführung von Spartentarifen neues Gewicht. Im nachfolgenden Beitrag analysiert Werner Sauerborn die Erosion des Flächentarifs unter besonderer Berücksichtigung der Lage im Öffentlichen Dienst und erläutert, wie unter den Bedingungen eines Vergabegesetzes der Flächentarifvertrag (auf Grundlage eines "Spartentarifs") wiederhergestellt werden könnte.

Seit Jahren ist die gewerkschaftliche Tarifpolitik auf den meisten Schauplätzen ein Kampf mit dem Rücken zur Wand, ein Kampf in der Defensive. Fast immer geht es darum, noch Schlimmeres zu verhindern, Auffangpositionen aufzubauen, von denen man weiß, dass sie in nicht allzu ferner Zeit auch wieder geräumt werden müssen. Noch vor wenigen Jahren war die Etablierung zweiter Tarifebenen, mit denen die Flucht der Arbeitgeber aus den Flächentarifen gestoppt werden sollte, ein Sakrileg. Heute ist mehr als fraglich, ob der Zug eine Stufe tiefer noch gestoppt werden kann.

Diese innere Erosion mit ihren verschiedenen Formen tarifwidrigen Verhaltens wie dem glatten, aber geduldeten Bruch von Tarifnormen oder den betrieblicher Not folgenden "Bündnissen für Arbeit", mit denen Unterschreitungen der Tarifstandards mangels Alternative hingenommen oder gar sanktioniert werden [1], geht einher mit der äußeren Erosion, dem Dahinschmelzen der Tarifbindung, dem geringer werdenden "Deckungsgrad" [2] bzw. der Zunahme weißer Flecken auf der tarifpolitischen Landkarte. Diese Erfolglosigkeit in der Tarifpolitik ist der wesentliche Grund des gewerkschaftlichen Bedeutungsverlusts überhaupt. Gewerkschaften, die in ihrem "Kerngeschäft" an Gestaltungskraft verlieren und kaum mehr Verbesserungen erzielen (die Verhinderung von Verschlechterungen ist auf Dauer nicht als Erfolg vermittelbar), verlieren an Attraktivität und an Mitgliedern. Die ÖTV zum Schluss um die 50.000 jährlich. Ob ver.di diesen Trend brechen kann, ist zweifelhaft (s. 2. Teil des Beitrags).

Dass Arbeitgeber und -verbände mit Verbandsaustritt, Tarifflucht, Standortverlagerungen oder Stillegungen drohen, um Niveauabsenkungen durchzusetzen, ist nicht neu. Neu ist, dass sie zunehmend damit durchkommen. Die Szenarien der Arbeitgeber sind immer öfter nicht mehr Bluff, mit dem man umzugehen wüsste, sondern reales Druckpotential, das sich auf geänderte ökonomische Strukturen berufen kann. Warum funktioniert als Gegenmittel der Mechanismus gewerkschaftlicher Druckentfaltung nicht mehr? Worin besteht die strukturelle Schwäche der gewerkschaftlichen Tarifpolitik und damit der wesentliche Grund des säkularen Bedeutungsverlustes der Gewerkschaften?

Branche und Tarifgebiet - das Kongruenzgebot

Erinnern wir uns. Das ökonomische (und letztlich auch das politische) Gewicht einer Gewerkschaft resultiert aus ihrer Fähigkeit, durch Minderung der Konkurrenz der Arbeitskraftanbieter untereinander die Verkaufsbedingungen (Preis, d.h. Lohn etc.) auf dem jeweiligen Arbeitsmarkt zu verbessern. Maßstab für diese Fähigkeit ist die Glaubhaftigkeit der Drohung, notfalls flächendeckend in einer Branche die Arbeitskraft dem Arbeitsmarkt vorenthalten zu können.

Diese Fähigkeit besteht genau genommen aus zwei Komponenten, einer intensiven und einer extensiven Präsenz. Intensive Präsenz ist gegeben, wenn die Organisationsgrade und die Mobilisierbarkeit für das kollektive Vorenthalten der Arbeitskraft ausreichen. Extensive Präsenz meint die gewerkschaftliche Fähigkeit, dies auch flächendeckend organisieren zu können. Die "Extension" des gewerkschaftlichen Handelns muss eine Branche insgesamt und nicht nur (z.B. nationale) Teile von ihr abdecken, sie darf keine größeren weißen Flecken zulassen, die den Effekt der Druckentfaltung verpuffen lassen und umgekehrt Druck auf die tarifvertraglich erfassten Teile einer Branche ausüben würden.

An dieser zweiten Voraussetzung fehlt es den Gewerkschaften immer mehr. Sie bilden in ihren Handlungsrahmen (Tarifverträge) und damit zusammenhängend in ihren Organisationsstrukturen (Zuständigkeitsbereiche) immer weniger die Branchen und Arbeitsmärkte ab, in denen sich inzwischen der Wettbewerb, auch um das Arbeitskraftangebot, abspielt. Es fehlt an der "Kongruenz" von Branche und Geltungsbereich des Tarifvertrags. Damit fehlt eine elementare Voraussetzung für die gewerkschaftliche Druckentfaltung und für die Entwicklung intensiver Präsenz.

Inkongruenzen zwischen den Geltungsbereichen eingeführter Tarifverträge und Branchengrenzen können durch ökonomische und strukturelle Veränderungen in vielerlei Konstellationen entstehen. Globalisierung ist nur einer, wenn auch der derzeit einflussreichste Auslöser der entstandenen Inkongruenzen.

Die Überschriften für diese Prozesse – Globalisierung, Deregulierung, neue Ökonomie – finden sich, ziemlich folgenlos, seit Jahr und Tag auch im Repertoire von GewerkschaftsfunktionärInnen und linken PolitikerInnen. Technische Entwicklungen im Produktions-, Produkt- und Distributionsbereich, verbunden mit neuen Kommunikationsmöglichkeiten (Internet) als Querschnittsinnovation haben den Weltmarkt in immer mehr Bereichen und Branchen zu einer neuen Realität werden lassen. Aus den Fesseln nationaler sozialstaatlicher Regulation entkommen, bewegt sich das Kapital in einem globalen Wettbewerb, der kaum mehr Standards kennt, als ihn ein (eigentums-)gesicherter freier Waren- und Kapitalverkehr benötigt, vergleichbar vielleicht dem deutschen Binnenmarkt vor Herausbildung des modernen Sozialstaats.

Nachdem Standards und Kriterien EU-weit normiert sind, steht etwa der TÜV Rheinland in direkter Konkurrenz zu entsprechenden Einrichtungen und Ingenieurbüros in Birmingham oder Porto, wenn ein Gutachterauftrag für die Zulassung eines neuen Produkts vergeben wird. Auftragsströme in der Auto- oder Luftfahrtindustrie, Programmier- und Entwicklungsaufgabe bis hin zu Druckaufträgen können kurzfristig zwischen Standorten umgelenkt werden. Am weitesten fortgeschritten ist die Situation in der Seeschifffahrt. Innerhalb von 15 Jahren hat sich ein globaler Arbeitsmarkt für Seeleute auf einem entsprechend niedrigen Niveau herausgebildet (s. Teil 2).

Die ökonomischen Entwicklungen haben neue Märkte und Branchenstrukturen entstehen lassen, die sich immer weniger an nationalen Territorien festmachen lassen. Die Ökonomie hat sich aus dem Rahmen bestehender Flächentarife herausentwickelt, wodurch diese ihren Status als Flächentarife verlieren und zum Anachronismus werden. Sie erfüllen nicht mehr das Kriterium, das sie als Flächentarifvertrag definiert: mit ihrem Geltungsbereich eine Branche abzubilden.

Flächentarif und Deregulierung des öffentlichen Sektors

Was hat die Krise der Flächentarifverträge des Öffentlichen Dienstes (ÖD), etwa im Bereich des ÖPNV, mit der Globalisierung zu tun? Hier sind es doch weder ökonomische Innovationsprozesse noch globalisierte Wettbewerbsverhältnisse, die Veränderungen in den Zuordnungen und Branchenstrukturen ausgelöst haben. Die Akteure operieren nach wie vor überwiegend in regionalen Bezügen. Nahverkehr und Gesundheitsversorgung findet im Wesentlichen vor Ort statt, auch wenn hier und da ausländische Konkurrenten auftreten. Auch haben technische Mittel und Arbeitsmethoden nicht solche Sprünge gemacht, dass sie die Marktgrenzen hätten sprengen müssen.

Hier ist vielmehr – politisch vermittelt über EU-Entscheidungen – der Mainstream der Deregulation auch in die Bereiche der örtlichen Daseinsvorsorge zurückgeschwappt: Vormals öffentlich-wirtschaftlich agierende Bereiche finden sich in neuen Branchen wieder, die kommunalen Verkehrsbetriebe werden mit privaten Wettbewerbern um Linienkonzessionen konkurrieren, kommunale Entsorgungsbetriebe werden auch im städtischen Kerngeschäft gegen private Konkurrenz um ihre Marktanteile kämpfen müssen. Wenn es nicht gelingt, die weitere Aushöhlung des Sozialstaats durch Auskoppelung der öffentlichen Wirtschaft aus dem Staatssektor politisch zu stoppen, werden weitere Bereiche auf den gleichen Weg gedrängt. Trotz anderer Wirkungsmechanismen spiegeln also auch im bisherigen Öffentlichen Sektor die Geltungsbereiche der Tarifverträge nicht mehr die Branchenzuschnitte wider. Auch hier gilt zunehmend: Wo Flächentarif draufsteht, ist nicht mehr Flächentarif drin.

Wenn es also unausweichlich ist oder werden sollte, dass die branchenbezogenen Bereiche des Öffentlichen Dienstes ihren neuen tarifpolitischen Rahmen entwickeln, wäre der Kernbereich des Öffentlichen Dienstes durchsetzungsstrategisch erheblich geschwächt. Die tarifpolitischen Erfolge in besseren Zeiten verdankten sich wesentlich der Kampfbereitschaft in den Arbeiterbereichen des Öffentlichen Dienstes, namentlich im Ver- und Entsorgungsbereich und im ÖPNV. Dennoch wäre der Versuch, die branchennahen Bereiche aus einem tarifstrategischen Kalkül einfach weiter dem Tarifbereich ÖD zuzuordnen zum Scheitern verurteilt. Zum einen würde ihnen die Chance genommen, sich mit der Durchsetzung neuer Flächentarifverträge neu zu formieren. Und zum anderen würden städtische Entsorgungs- oder Verkehrsbetriebe, die unter dem Druck ständiger Unterbietungskonkurrenz stünden, auch nicht mehr die Rolle des tarifpolitischen Zugpferds für den Kernbereich des Öffentlichen Dienstes spielen können. Dies hat sich ansatzweise bereits in der Tarifrunde 2000 im Öffentlichen Dienst gezeigt. Viele FunktionärInnen aus diesen Bereichen zögerten sehr, die traditionelle Vorreiterrolle zu übernehmen, weil sie fürchteten, ein gutes Ergebnis könne sie in der Wettbewerbssituation mit der privaten Konkurrenz weiter ins Hintertreffen bringen.

Zu den unausweichlichen Konsequenzen aus der ökonomischen Entwicklung gehört also nicht nur die Entwicklung von Flächentarifen in den neu zugeschnittenen Branchen, sondern auch die Neubestimmung einer Tarifpolitik für den Kernbereich des Öffentlichen Dienstes. Der tarifpolitische Rock muss nicht nur neu zugeschnitten werden, wenn er zu klein ist, wie im Falle grenzüberschreitender Branchenentwicklungen, sondern auch wenn er zu groß ist.

Der Kernbereich des Öffentlichen Dienstes wird sich, sobald die Abnabelungswunden verheilt sind, schnell selbst als "Branche" verstehen lernen müssen, um seine Stärken entwickeln und aus eigener Kraft erfolgreiche Tarifpolitik betreiben zu können. Diese Entwicklung wird auch der Frage des einheitlichen Personalrechts neuen Auftrieb geben. Solange über der Hälfte der Arbeitnehmer eines Tarifgebiets das Streikrecht vorenthalten wird, sind tarifpolitische Erfolge schwer vorstellbar.

Grenzen der Tarifpolitik

Die Anerkennung der ökonomischen Realitäten der neu entstandenen "Flächen", als unverzichtbare Voraussetzung für eine Erneuerung der Tarifpolitik, muss in den Bereichen der erodierenden Flächentarife für den Öffentlichen Dienst GewerkschafterInnen besonders schwer ankommen, weil sie diese Entwicklung nicht gewollt haben, weil mit ihr sozialstaatliche Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung zur Disposition gestellt werden.

In manchen wirtschaftsnahen Bereichen des Öffentlichen Dienstes ist noch nicht entschieden, ob der Kampf um die öffentlich-wirtschaftliche Ausrichtung und Einbindung schon verloren ist. In anderen Bereichen haben die Gewerkschaften die politische Niederlage jedoch kassiert. Zu lange haben sie und die politischen Parteien der ArbeiterInnenbewegung in allen Ländern der Globalisierung nur zugeschaut, ohne sich dem Kapital an die Fersen zu heften, haben auf nationale Standortsicherungsbündnisse gesetzt, statt ihre Organisationsstrukturen ebenfalls zu globalisieren. Entwicklungen und Entscheidungen auf supranationalen Ebenen haben jahrelang ohne wesentliche Beeinflussung durch Gewerkschaften stattgefunden. Dachverbände haben sich als wenig durchsetzungs- und artikulationsfähig erwiesen. Sie haben nicht verhindern können, dass sich die Globalisierung in Form von Deregulierung und "Entsozialstaatlichung" Bahn gebrochen hat.

Was politisch nicht abgewandt werden konnte, kann durch Tarifpolitik nicht nachträglich verhindert, nicht einmal wesentlich korrigiert werden. Der Versuch, sich den neuen Realitäten zu versperren, das Gemeinwohlprinzip durch Verteidigung und Grenzbefestigung eines erodierenden Flächentarifs wiederherzustellen oder sein weiteres Absaufen zu verhindern, muss scheitern. Tarifarbeit ist keine politische Kür, mit der sich allgemeine politische Vorstellungen verwirklichen lassen. Nur wenn sich Tarifhandeln penibel an den ökonomischen Mechanismen orientiert, kann es effektiv sein. Die politisch mitverschuldete Niederlage im Kampf um die Öffentliche Wirtschaft mit den Mitteln der Tarifpolitik noch abwenden oder korrigieren zu wollen, hieße der ersten Niederlage die zweite in der sich nun stellenden Frage, auf welchem Tarifniveau sich die neuen Bereiche behaupten werden, auf dem Fuße folgen zu lassen.

Bei der Entstehung des Problems gilt dasselbe wie bei der Auseinandersetzung mit seinen Folgen: Je später die neue Herausforderung angenommen wird, desto verheerender die Auswirkungen für die Gewerkschaften und die abhängig Beschäftigten. Je schneller es ver.di gelingt, z.B. mit dem Spartentarif im ÖPNV, das Prinzip des Flächentarifs wiederherzustellen, desto näher wird das künftige Tarifniveau in den neuen Branchen beim bisherigen des Öffentlichen Dienstes liegen können.

Eine "folgende Funktion der Tarifpolitik" schließt nicht nur ein Zurückbleiben hinter veränderten ökonomischen Strukturen aus, sondern auch ihr Überholen. Wenn die Konferenz der Krankenhausdirektoren von der ÖTV/ver.di Ähnliches wie den sich im ÖPNV abzeichnenden Spartentarif auch für Krankenhäuser aller Art und Rechtsform fordert, ist zu prüfen, ob hier die Gunst der Stunde für Absenkungen genutzt werden soll oder ob tatsächlich bereits von einer neuen Branche Krankenhauswesen gesprochen werden muss. Sind die öffentlichen Krankenhäuser, vermittelt über das Gemeinwohlprinzip, eher dem öffentlichen Sektor zuzurechnen, oder sind sie bereits so weitgehend den Marktmechanismen des Wirtschaftsbereichs Krankenhäuser unterworfen, dass sich auch für diesen Bereich die Notwendigkeit ergibt, den Rahmen für einen neuen Flächentarifvertrag zu erkämpfen?

Spartentarif Nahverkehr

Die Auseinandersetzung über die Einführung eines so genannten Spartentarifvertrags für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in NRW hat Beispielcharakter in der Diskussion zum Thema Flächentarif. Zur Frage steht, ob es den Gewerkschaften, hier der ÖTV bzw. inzwischen ver.di, gelingt, die Tarifvertragsstrukturen so weiterzuentwickeln, dass sie sich wieder in Kongruenz mit veränderten Wirtschaftsstrukturen befinden. Wenn auch globalisierungsbedingte Deregulation der Auslöser für die ökonomischen Strukturveränderungen war, so handelt es sich doch insofern um eine "einfachere Variante" des Kongruenzproblems, als sich die zu beantwortenden Veränderungen innerhalb nationaler Märkte, ja innerhalb der Organisationsbereichs von ver.di vollziehen, die Probleme der Dysfunktionalität national begrenzter Gewerkschaftsorganisation zwar bei der Problementstehung (kein gewerkschaftliches Gegengewicht auf EU- bzw. globaler Ebene), nicht aber bei der Problemlösung eine Rolle spielen.

Öffentlicher Personennahverkehr ist nach gewerkschaftlichem und bisher auch nach allgemeinem politischen Verständnis Teil sozialstaatlicher Daseinsvorsorge und daher tarif- und eigentumsrechtlich überwiegend dem öffentlichen Sektor zugeordnet. Tariftheoretisch stellte der Öffentliche Dienst unter Einschluss seiner Unternehmen eine Wirtschaftsbranche dar, in der mit BAT/BMTG Flächentarife gelten. Daneben gibt es, bisher systemisch konsequent, den Tarifbereich des privaten Busgewerbes, in dem ebenfalls ver.di als Transportgewerkschaft Tarifverträge abschließt, deren Niveau allerdings wegen schlechter Organisationsgrade um ca. 30 Prozent unter denen des Öffentlichen Dienstes liegt. Diese werden noch – auch bisher schon ein Bruch des Flächentarifvertragsprinzips – von Haustarifverträgen unterboten, die die Gewerkschaft "Transnet" (ex GdED) mit ehemals bahneigenen Busunternehmen abschließt.

Nicht neu ist, dass die zunehmende Aushöhlung des Sozialstaatsgedankens die kommunalen Verkehrsbetriebe unter den Wettbewerbsdruck der privaten Anbieter gebracht hat, was sich in einer Zunahme von Privatisierungen in Form von Konzessionsvergaben oder Ausgründungen niederschlug. Diese Entwicklung kann in den nächsten Jahren eine dramatische Zuspitzung erfahren, wenn aufgrund von EU-Richtlinien die Kommunen gezwungen werden, die Konzessionen auch für die städtischen Linien auszuschreiben und dem niedrigsten Bieter den Zuschlag zu erteilen. Durch einen politisch nicht verhinderten Eingriff wird somit eine neue Wirtschaftsstruktur etabliert. Danach ist der kommunale ÖPNV im Wesentlichen nicht mehr Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, sondern Teil des Wirtschaftsbereichs "Privater ÖPNV". Auch wenn BMTG und BAT den kommunalen ÖPNV weiter zu ihrem Geltungsbereich zählen, wird tariftheoretisch und -politisch die unmittelbare flächentarifliche Zugehörigkeit zum Öffentlichen Dienst beendet sein.

In der neu entstehenden Branche existiert ein flächentarifliches Vakuum. Ohne Gegenstrategie von ver.di würde es in den nächsten Jahren für Hunderttausende Beschäftigte in den kommunalen Verkehrsbetrieben einen Absturz des Sozial- und Einkommensniveaus bis auf die Auffanglinie des Tarifvertrags für die privaten Busunternehmen geben, der sich über Ausgründungen, Verbandsflucht, Entlassungsdrohungen, betriebliche "Bündnisse für Arbeit" (Absenkung gegen Kündigungsschutz) und viele Sozialpläne Bahn brechen würde.

Die Gegenstrategie von ÖTV bzw. ver.di heißt Spartentarifvertrag und ist der Versuch, für den neuen Wirtschaftsbereich erstens einen umfassenden Flächentarif zu etablieren und diesen zweitens vom Niveau her nahe am Standard von BAT/BMTG zu halten und ihn von der Tarifdynamik (nicht von der Struktur [3]) an den Öffentlichen Dienst und seine Tarifrunden angekoppelt zu halten. Gelingt es, den Flächentarif durchzusetzen, würde dies für die Beschäftigten der kommunalen Betriebe geringe Einbußen ("Konsolidierungsbeiträge") zur Folge haben, wobei die Lasten nicht nur auf die Neueinzustellenden abgewälzt, sondern zu einem kleinen Teil auch von den Alt-Beschäftigten mitgetragen würden. Für die Beschäftigten der privaten Anbieter würden sich erhebliche, möglicherweise in Stufenplänen zu regelnde Einkommens- und Sozialverbesserungen ergeben.

Die Durchsetzung des bereits unterschriftsreifen Spartentarifvertrags als verbindlicher Flächentarif wird in diesem Falle weniger klassisch, also durch gewerkschaftliche Verankerung und betrieblichen Druck, als auf politischem Wege erfolgen: Die Kostensenkungspotentiale des Spartentarifs werden den öffentlichen Arbeitgebern nur zugestanden, wenn sie bis Ende des Jahrzehnts zusagen, auf weitere Ausgründungen und Privatisierungen zu verzichten und künftig bei der Vergabe von Verkehrsleistung die Gewährleistung der Bedingungen des Spartentarifvertrags zum Ausschreibungskriterium zu machen.[4] Die kommunalen Arbeitgeberverbände werden aufgefordert, die Mitgliedschaft der privaten Busunternehmen zu ermöglichen, während die ÖTV die Tarifverträge für diesen Bereich auslaufen lassen und keine neuen mehr abschließen würde.

Die innergewerkschaftliche Kritik wirft dem Spartentarifvertrag vor, den "Flächentarifvertrag aufzuweichen" und hält ihn für ein "Eingeständnis gewerkschaftlicher Schwäche" [5]. Das Gegenteil ist der Fall: Dem Flächentarif für den kommunalen ÖPNV ist der ökonomische Boden entzogen. Eine Entwicklung, die die Gewerkschaften politisch nicht haben verhindern können, hat ihn aufgeweicht. Gewerkschaftliche Schwäche wäre es, vor dieser Realität die Augen zu verschließen. Die Strategie, die mit dem Modell des Spartentarifvertrag für den ÖPNV in NRW verfolgt wird, ist ein Präzedenzfall moderner Tarifvertragspolitik, der überall dort (allerdings auch nur dort) aufgegriffen werden sollte, wo vergleichbare Entwicklungen eingetreten oder absehbar sind. Zu einem hinnehmbaren Preis (der ohne Spartentarif viel höher wäre) wird eine tarifpolitische Chance erkauft. Für alle Beschäftigten der neuen Branche, ob privat oder kommunal, würde ein neuer Flächentarifvertrag Bodenbildung bedeuten, um es in der Sprache der Börse zu formulieren. Erpressbarkeit und Tarifdumping hätten ein Ende, es wäre eine solide Grundlage für eine wieder erfolgreiche Tarifpolitik geschaffen.

Dieser Artikel ist erschienen im express, Zeitschrift für Betriebs- und sozialistische Gewerkschaftsarbeit, 6-7/01

* Werner Sauerborn ist Gewerkschaftssekretär im ver.di-Landesbezirk Baden-Württemberg (Schwerpunkt Wirtschafts- und Tarifpolitik) und Herausgeber von "paps" – Zeitschrift für Väter.

Anmerkungen
1) Höland, A./Brecht, H./Rein, U.: "Flächentarifverträge und betriebliche Bündnisse für Arbeit", in: WSI-Mitteilungen, Nr. 10/2000
2) Traxler, F.: "Nationale Tarifsysteme und wirtschaftliche Internationalisierung", WSI-Mitteilungen 4/1998, S. 251
3) Dies wird erreicht durch Übernahme der Regelungen über Altersteilzeit und Rationalisierungsschutz aus BAT/BMTG, durch Besitzstandssicherung bei Arbeitszeit und Entgelt für Altbeschäftigte und durch Ankoppelung (Tarifeinheit) an die Tarifrunden für den ÖD bei Entgelt, Wochenarbeitszeit und betrieblicher Zusatzversorgung. Vgl. Fakten zum Spartentarifvertrag Nahverkehr NRW, ötv-Bezirk NW I und II, Sommer 2000
4) Um dies rechtlich abzusichern, hat die ÖTV/ver.di ein so genanntes Vergabegesetz, das eben dies erlaubt, auf den Weg gebracht. Der Bundesrat hat zugestimmt. Die Zustimmung des Bundestags scheint nur noch Formsache zu sein.
5) z.B.: ÖTV-DIALOG, Mitgliederzeitung des ehem. ÖTV-Bezirks Berlin, Nr. 10-11/2000, S. 148

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