Nix Ästhetik, einfach Gewalt

Berlinale 2. Die Krise im Film zeigt sich besonders dann, wenn im Film die Krise ausbleibt. Oder der Film. Oder die Kugelschreiber. Oder die Feuerzeuge.

Axel Grumbach

Willkommen im Club. Dass die westliche Welt nun auch zur Krisenregion geworden ist, zeigte sich auf der Berlinale schon gleich in den ersten Tagen am Abgang von noch im letzten Jahr massiv vertretenen Sponsoren wie »Premiere«, dünner werdenden Presseheften und nur noch sporadisch verteilten Gratiskulis und -feuerzeugen.

Aber woran erkennt man eigentlich im Gegenwartsfilm die Zeichen der westlichen Krise, die von echt krisenerfahrenen Regionen als Jammern auf höchstem Niveau belächelt wird? Wenn sich ältere Yakuzas in japanischen Filmen plötzlich Sorgen um ihre Entlassung machen oder wenn serbische Ex-Elitesoldaten im Supermarkt Massaker verüben, weil ihre Omas dort schlecht bedient werden? Oder soll man gar die erfolgreiche Rückkehr des großen Hollywood-Musicals – im Wettbewerb war neben »Chigaco« auch noch das niederländische Singspiel »Ja Zuster, nee Zuster« vertreten –, das zur Zeit der Wirtschaftsdepression Hochkonjunktur hatte, als Menetekel deuten?

Das krisenhafteste Zeichen im Film ist meist, wenn die Krise im Film selber ausbleibt, oder eher noch, wenn der ganze Film ausbleibt – so geschehen z.B. in den Frühneunzigern nach dem Zusammenbruch der Filmwirtschaft der ehemaligen Ostblockstaaten. Nur noch wenige Filme wurden gedreht, der soziale Realismus verschwand zugunsten des real existierenden Eskapismus in Form pathetischer Nationalepen oder schlechter Hollywood-Kopien. Von der marginalen bis nicht existenten Filmproduktion älterer Elendsregionen gar nicht zu reden.

Nach über zwölf Jahren Wirtschaftsrezession bzw. -stagnation zählt Japan nun auch zu den krisenerfahrenen Industrieländern. Im vergangenen Jahrzehnt beschäftigte sich dort eine Vielzahl Filme mit dem Zustand der Jugend, die meist als orientierungslos und gewalttätig dargestellt wurde.

In Lee Sang-Ils »Border Line« tummeln sich wie eh und je schwer desillusionierte Jugendliche mit den wohl bekannten suizidalen Tendenzen, aber zusätzlich macht sich nun auch der Gangster Sorgen wegen drohender Arbeitslosigkeit und die Hausfrau wird desperat, weil ihr Sohn in der Schule gemobbt wird, das Geld nicht reicht und das Eigenheim in Gefahr ist. Der schleichende Niedergang einer einst übermächtig erscheinenden Wirtschaftsnation manifestiert sich hier durch die düsteren und trostlosen Handlungsorte, eher schmutzige Industrie-Brachen als die schönen Fassaden des Hightech-Japan. Die Auswirkungen der Dauerwirtschaftskrise betrifft immer größerer Teile der Gesellschaft, die darauf mit irrationalem, mitunter gar selbstzerstörerischem Verhalten reagiert.

Auch der früher für seine rasant-überdrehten Komödien bekannte japanische Regisseur Sabu wechselt nun in »Koufuku no kane« (»Blessing Bell«) zu einer lakonisch-melancholischen Form des Geschichtenerzählens. Der Fabrikarbeiter Igarashi (Susumu Terajima) wird entlassen und irrt daraufhin durch Tokio, er bleibt während des ganzen Films stumm, wird in eine Reihe unglaublicher Ereignisse verwickelt (Gefängnis, Autounfall, Rettung einer Selbstmöderin, Millionengewinn und anschließender Verlust des Geldes) und kehrt am Ende zu seiner Frau zurück, die ihm kein Wort des Erlebten glaubt.

Es ist sicher nicht zufällig, dass in den Ländern, in denen die Krise zum Dauerzustand geworden ist, der vorherrschende Film-Ton schwarz- bis galgenhumorig ist.

Einer der herausragenden Filme dieser Berlinale war dabei der Forumsbeitrag »Dzien Swira« (Der Tag des Spinners) von Marel Koterski, der im letzten Jahr ein großer Publikumserfolg in Polen war. Das Leben eines Polnischlehrers in den Mittvierzigern verläuft in einer Mischung aus Zwängen, Erinnerungen, Verzweiflung, Hoffnung und Hass. Sein ganzer Tagesablauf wird rigide von Zwangshandlungen bestimmt, die nur von permanenten Hassanfällen unterbrochen werden.

Diese alltägliche Hölle eines analen Zwangscharakters erwies sich als weiter verbreitet, als der Regisseur angenommen hatte: »Ich dachte, ich hätte einen Ausnahmefall beschrieben – und dann werde ich dauernd gefragt ›Woher kennen Sie meine Geschichte?‹« Der Tag des Spinners handelt aber auch von der Tragödie eines Menschen, der unfähig geworden ist, gesellschaftlichen Zwängen einfach zuwiderzuhandeln, weil sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen sind – verdeutlicht durch den rasenden inneren Monolog des Hauptdarstellers, der die ganze Ambivalenz einer Figur, bei der das eigene Handeln den eigenen Wunschvorstellungen ständig entgegensteht. Wenn dann am Ende die Bewohner einer Plattenbausiedlung auf ihren Balkons stehend eine umgekehrte Fassung des Vaterunsers herunterbeten, dessen hauptsächliche Bitte an Gott darin besteht, den Nachbarn möglichst die Hölle auf Erden zu bereiten, wird die bittere Ironie überdeutlich, mit der Koterski den fortdauernden Prozess der Entsolidarisierung kommentiert.

Bezüglich der gesellschaftlichen Auflösung ist das nun nicht mehr existene Restjugoslawien schon einige Schritte weiter als das kommende EU-Land und so wunderte es nicht, dass der vorherrschende Gemütszustand in der Groteske »Jagoda u supermarketu« (»Jagoda in the Supermarket«) von Dusan Milic die Hysterie ist. Ein serbischer Ex-Elitesoldat nimmt in einem amerikanischen Supermarkt in Belgrad Geiseln, weil seine Großmutter dort schlechten Service erfuhr. Das Ganze eskaliert nach bekanntem Muster, das Volk bejubelt natürlich den Amok laufenden Aufrührer, die staatliche Ordnung, repräsentiert durch trottelige und verlogene Wendedemokraten, reagiert mit massiver Gegengewalt und am Ende bleibt kein Stein mehr auf dem anderen.

Aus Brasilien, wo der Krieg gegen die Armut schon immer ein Krieg gegen die Armen war, präsentierte dieses Jahr José Henrique Fonseca mit »O Homem do ano« (»Der Mann des Jahres«) die blutgetränkte Komödie zum Thema.

Nach einem Streit bringt Maiquel den Kleinkriminellen Suel um, aber statt wegen des Mordes verfolgt zu werden, feiert ihn die Bevölkerung eines Armenviertels von Rio de Janeiro als Helden. Schnell sind auch die Spitzen der Mittel- und Oberschicht zur Stelle und bieten Geld und angenehmes Leben für weitere Auftragsmorde. Maiquel möchte eigentlich ein normales Leben mit Frau und Kind führen, aber immer ist da jemand, der eigentlich den Tod verdient hat, und jemand, der bereit ist, dafür zu bezahlen. Wo das alltägliche Morden schon zum Normalzustand geworden ist, gibt es keine Ästhetisierung der Gewalt mehr, Fonseca zeigt das ewige Auftragskillen als lästigen Arbeitsvorgang. Ihm gehe es darum zu zeigen, dass die Armut die alltägliche Gewalt erzeuge, erklärte der Regisseur. Ein Zustand, der der westlichen Welt auch einmal nicht ganz fremd gewesen ist. So meinte ein Politiker in Scorseses 19.-Jahrhundert-Drama »Gangs of New York« passend: »Man findet immer eine Hälfte Armer, die die andere Hälfte erschlägt.«

Keiner dieser Filme wurde jedoch bei der Berlinale ausgezeichnet. Und auch ein weiterer fehlte: Der große Scheißbär für die schleimigste Anbiederei hätte Edward Norton gebührt, der sich auf der Pressekonferenz von »The 25th Hour« nicht entblödete zu bekennen: »Es muss gerade sehr schön sein, hier in Deutschland und Frankreich zu leben, auch weil ich komplett vergessen habe, wie es ist, stolz auf seine Regierung zu sein!«

Und damit kommen wir am Ende nochmal kurz zu dem, was die deutsche Presse neben den Filmen bei der Berlinale eigentlich immer am meisten beschäftigt: Hollywoodstars.

Das diesjährige Aufgebot an Roteteppichschlurfern war massiver denn je und kaum einer ließ sich die Gelegenheit entgehen, eine Glanzleistung in der Rolle des mutigen Kriegsgegners abzuliefern – die Standing Ovations wollten schlicht kein Ende nehmen.

Das gern als heroischer Akt zelebrierte Antikriegsbekenntnis der Stars war in aller Regel jedoch vorher noch schnell mit einem patriotischen Mantra für die Heimatfront abgesichert worden, denn keiner unter ihnen wollte gern so enden wie Sean Penn, der angeblich aufgrund seines Peaceniktums zur diesjährigen Oscar-Verleihung nicht eingeladen wurde. »Ich bin kein Antiamerikaner, aber gerade weil ich Amerika liebe, muss ich jetzt ein paar Worte …«, begannen daher die meisten Statements.

Normalerweise wäre der Aufmarsch frisch geschlüpfter Friedensengel aus Los Angeles denn auch großräumig ignoriert worden, wenn sich da nicht der Verdacht aufdrängen würde, dass es dem liberalen Hollywood-Establishment vor allem darum ging, ein Statement gegen den verhassten George W. Bush abzugeben. Und es bei einem ähnlichen Krieg unter Al Gore genauso das Maul gehalten hätte wie zuvor etwa bei Bill Clintons Jugoslawien-Einsatz. Dazu kommt, dass man bei Schauspielern, denen nicht umsonst der Ruf beifallssüchtigen Opportunistentums vorauseilt, immer wieder ein Gespür für den richtigen Moment der Inszenierung öffentlichkeitswirksamer Billig-Engagements beobachten kann – in Old Europe ist momentan der Peacenik schick, also wird der gegeben. Bei so viel aufrichtiger Heuchelei wünschte man sich am Ende gar, dass sich der bekennende George-W.-Bush-Wähler Dennis Hopper, allein schon aus Minderheiten-Quoten-Gründen, für den Irakkrieg ausgesprochen hätte.

Dustin Hoffman, George Clooney, Richard Gere und Co. wurden für ihr furchtloses Auftreten im Heimatland übrigens prompt belohnt und müssen bei der diesjährigen Oscar-Zeremonie nicht anwesend sein. Willkommen im Club.