Streifen zum Hingucken

Berlinale 1: Tendenzen im Werk unserer Filmschaffenden auf dem diesjährigen Filmvolksfest.

Jürgen Kiontke

»Think German!« könnte das Motto einer der nächsten Filmfestspiele in der gebeutelten Stadt Berlin mit ihren »313 473« (B.Z.) Arbeitslosen vielleicht lauten, möchte die Festivalleitung doch die deutschen Filminteressen endlich gewahrt wissen und hat dafür die zwei Reihen »Perspektive Deutscher Film« und »German Cinema« eingeführt. Oder hätte es in diesem Jahr schon so heißen können statt: »Auf zur Toleranz«?

Es gab die Retrospektive mit Friedrich Murnau, und eine Menge Wettbewerbs-, Panorama- und Forumsfilme, umrahmt von Diskussionen zuweilen nationalistischen Einschlags. »Jenseits von Hollywood. Die Renaissance des deutschen Films?« hieß eine Talkrunde im ZDF-Nachtstudio.

Die Kulturtechnik Kino dient der Selbstverständigung des Kinopublikums, also konnte man hier ablesen, worüber sich die Deutschen selbst verständigen und was ihnen selbstverständlich ist. In diesem Kontext ist es fast kurios, dass mehrere Produktionen das Schicksal von Migranten zeigten und solche filmischen Identifikationsangebote wie Romuald Karmakars »196 BPM« über das Volksfest Love Parade nicht ganz so präsent waren. Der Erwähnung sicher wert: Hans-Christian Schmids »Lichter«, der erzählt, wie Menschen aus Osteuropa über die Oder kommen, oder Robin von Hardenbergs »Hình Bóng«, der zeigt, dass – Globalisierung hin oder her – Deutschland auch bis Vietnam reicht. Hier geht es um das Schicksal einer vietnamesischen Familie, und unterm Strich darum, dass die Bevölkerung in Deutschland eben nicht nur aus Deutschen besteht. Das ist offensichtlich keine Selbstverständlichkeit.

Ansonsten scheinen die Leute hier immer noch nicht die Vergangenheit verkraftet zu haben. Davon hat unser Land ja eine ganze Menge. Während der von Artur Brauner produzierte Film »Babi Jar« mit Fünfzigerjahredesign und erschreckend künstlerischer Eindimensionalität zur Diskussion darüber einlädt, ob der Kinofilm das richtige Medium für das Thema Holocaust ist – umgekehrt gilt natürlich: kein Film ist auch kein Medium –, entdecken die heute 40jährigen ihre politische Geschichte. So etwa Barbara Teufel mit ihrer Spielfilm / Doku-Melange »Die Ritterinnen«. Dies sind sie nur, weil sie in der Berliner Ritterstraße wohnen, und dennoch ist der Name für das siebenköpfige Frauen-Lesben-Kollektiv zwar passend, aber wer würde schon Hardcore-Autonominnen als »galant« bezeichnen?

Barbara Teufel erzählt von ihrer Zeit als großes Mädchen, als Anführerin des Frauendemoblocks gegen das IWF-Treffen in Berlin Ende der achtziger Jahre, über Gruppendynamik, Männerrausschmiss aus der WG, Politikstrategien. Das ist überzeugend, weil Teufel dreht, wovon sie etwas versteht: von sich selbst. Entscheidend die Szene, wo die angehende Künstlerin gestehen muss, dass sie das gemeinsame Konto mit dem Kauf einer Kamera schwer belastet hat. Das ist der Punkt, an dem das Kollektiv zerbricht, hier wird die Frage aufgerissen: Wann steht das individuelle Bedürfnis nach Weiterentwicklung gegen das Kollektivinteresse?

Schöne Sache das. »Die Ritterinnen« folgt einer Erzählkonstruktion, die mit ihrem biografischen Kontext schlüssig ist und etwa bei dem US-amerikanischen Wettbewerbsbeitrag »Adaption« als zentral gewürdigt wurde – dass Teufels Film zwar ganz anders ist, aber einer ähnlichen Erzähllogik folgt, hat keiner gemerkt.

Bei den Großereignissen im Wettbewerb ist auch »Good bye Lenin« zu nennen. Regisseur Wolfgang Becker hängt bisweilen dem Sulz an, vergl. sein »Das Leben ist eine Baustelle«. Bei »Good bye Lenin« ist das auf den Titel reduziert.

Becker erzählt die Geschichte einer schwer kranken DDR-Bürgerin, deren Sohn alles unternimmt, damit Mutti keinen Stress hat. Und weil die linientreue Genossin vom Herzinfarkt geholt würde, sollte die Komapatientin jemals wieder aufwachen und erfahren, dass ihr Staat von der Landkarte gebügelt wurde, rekonstruiert der Fernsehtechniker-Azubi den ganzen Ostblock und projiziert ihn ins mütterliche Schlafzimmer.

Dem Film wurde a) vorgeworfen, er betreibe den Ausverkauf des Sozialismus (Anklage von links) – das sich da wer eine Ostalgie drauf brät, ist nicht auszuschließen –, und b) er sei zu verworren, es gehe nicht nur um die DDR-Vergangenheit, sondern Becker habe auch noch einen Familienkonflikt draufgesattelt (Anklage von Erbsenzählerkritikern).

Beides ist falsch: Becker zeigt vielmehr eine Familie im Wolkenkuckucksheim, die ihren verbliebenen Realitätssinn ausschließlich dazu nutzt, eine Lüge zu konstruieren. Und die Lüge des Sohnes, der aus Liebe zu Mutti nicht weniger als die Welt umgestaltet, fliegt erst mit dem Geständnis einer neuen Lüge auf: Die Mutter hat ihren Kindern, um die Familienbande eng zu schließen, die Briefe des in den Westen abgehauenen Vaters vorenthalten und ihnen aufgetischt, er sei ein mieser Kerl gewesen und habe die Familie sitzen lassen. In Wahrheit war Mutter zu feige, mit ihm zu gehen.

So haben »Die Ritterinnen« und »Good bye Lenin« vor allem das zu bieten: Am filmischen Mikrokosmos diskutierte philosophische Fragen von Schein und Sein, stimmig erzählt, und das ist nicht das Schlechteste.

Und wo wir gerade beim Lügen sind: So weit war es mit der Politisierung dann doch noch nicht. Zwar interessieren sich deutsche Filmemacher neuerdings für die Realität, und die Berlinale bot ihnen ein Forum. Zwar wurden die gesamten Festspiele unter dem Eindruck eines drohenden Krieges im Irak zum Weltfriedenstreffen mit allen irgendwie positiven wie negativen Erscheinungen solcher Dinge, zwar gab es eine Reihe deutscher Produktionen – wie etwa »Grüße aus Dachau« oder »Bernau liegt am Meer, in dem uns etwas über das als Regelvollzugsmaßnahme hervorragend geeignete Springerstiefelverbot erzählt wird; oder die irrwitzige Familiendokumentation »Heirate mich« über eine kubanische Einwanderin – sie näherten sich Themen wie Provinzgebaren, Rassismus und Rechtsextremismus. Aber ein Thema fand sich nicht, und da war das politische Kinospektakel zu sehr aufs Spektakel fokussiert: Was macht eigentlich die deutsche Bundeswehr all around the world? Wieso ist das kein Kinothema? Think german! Den ganzen Friedensbemühungen, Lippenbekenntnissen und Statements dummer wie kluger Art hätte die Präsenz eines solchen Films, und wär’s eine 60-Minuten-Fernsehdokumentation gewesen, ein bisschen Stabilität auf deutschem Boden gegeben.

Für den Rest gilt: Wenn schon so viel von der Renaissance des deutschen Films die Rede war, könnte letztendlich die filmische Identität bestenfalls in einer Dekonstruktion bestehen. Wenn Filme als Berichte über den deutschen Rassismus daherkämen (vorhanden). Über deutsche Kriegseinsätze und dieses seltsame Weltmachtstreben beim Thema deutsches Kino (nicht vorhanden).

Ein Widerspruch? Nö. Dem Newsletter der deutschen Filmförderungsanstalt ist aus seinem Papier über den Auftrag staatlicher Filmförderung namens »Die kulturelle Identität wahren« zu entnehmen: Wahrung der kulturellen Vielfalt.

Da habt ihr euer Material für die deutsche Großproduktion. Aber vielleicht lässt man ja diese ZDF-Nachtstudio-Sendung nächstes Mal einfach im Seitenprogramm laufen. Vielleicht in Kabul oder Sarajevo.

»Identity kills« – nein, das wird wohl nicht so schnell Festivalmotto. Das war dann auch nur ein weiterer Filmtitel (R: Sören Vogt) – über Psychiatrie-Insassen. Passt doch. Think nach.