Fortschritte der EU-Verfassung verteidigen

Konvent muss Prozess bis zur Verabschiedung begleiten und transparent machen
Von Sylvia-Yvonne Kaufmann


Wie jede Verfassung, widerspiegelt auch der europäische Verfassungsvertrag die Machtverhältnisse in der EU und ihren Mitgliedstaaten. Die Union ist ein riesiger Binnenmarkt mit dominierenden Wirtschafts- und Kapitalinteressen. Sie ist aber auch ein einzigartiges Integrationsprojekt von 25 Staaten mit über 450 Millionen Menschen. Der Verfassungsvertrag soll ihr Zusammenleben auf eine neue Grundlage stellen. Darin enthaltene Werte und Ziele müssen in politischen Auseinandersetzungen auf
europäischer wie nationalstaatlicher Ebene täglich erstritten oder verteidigt werden. Der Entwurf stellt für ein demokratisches und sozialeres Europa eine Grundlage dar, weil er im Vergleich zum Status quo signifikante Fortschritte enthält, woran linke Konventsmitglieder und Nichtregierungsorganisationen einen wichtigen Anteil haben.Zugleich enthält der Entwurf problematische Seiten. So wird der Weg der Militarisierung der EU verfestigt. Hier muss noch entschiedener für friedenspolitische Alternativen gekämpft werden.

Über die Debatte zum Entwurf kann endlich europäische Öffentlichkeit entstehen. Die Verfassung, die nach dem Beitritt von zehn neuen Staaten unterzeichnet werden soll, wird bei den Europawahlen im Juni 2004 eine große Rolle spielen. Über 100 Mitglieder des Konvents, auch ich, haben sich dafür ausgesprochen, dass die Bürgerinnen und Bürger per Referendum über die Verfassung mitentscheiden können. Das künftige Grundgesetz der Union ist von seiner Rechtsnatur her ein Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten. Bei ihnen verbleibt die verfassungsgebende Gewalt. Es wird also kein »europäischer Superstaat« entstehen.

In der Verfassung werden erstmals die Kompetenzen der EU in Kategorien klassifiziert. Damit wird sichtbar, welche Zuständigkeiten die Union ausübt und welche Aufgaben bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Außerdem werden die regionale und kommunale Selbstverwaltung erstmalig anerkannt. Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger werden im Verfassungsvertrag deutlich verbessert. Die EU-Grundrechtecharta wird integraler Bestandteil der Verfassung und das individuelle Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof ausgeweitet. Die EU erhält Rechtspersönlichkeit und kann nunmehr der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten. Auch dies stärkt den Grundrechtsschutz. Die Organe der EU werden verpflichtet, bürgernahe Entscheidungen zu treffen. Hervorzuheben ist die Einführung von direkter Demokratie in der Europapolitik durch europäische Bürgerbegehren. Ausdrücklich verankert wurde die Rolle der Sozialpartner. Neu aufgenommen werden der Grundsatz der Gleichheit und die Nichtdiskriminierung neben Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität als gemeinsame Werte der EU. Fortschritte wird es zur Gleichstellung der Geschlechter geben.

Für die EU wurde der Rahmen vereinheitlicht, in dem Europaparlament, Europäische Kommission und Ministerrat ihre jeweilige Rolle für die Politik auf europäischer Ebene wahrnehmen. In diesem Machtdreieck wird das Europaparlament gestärkt. Es erhält mehr Befugnisse in der Unionsgesetzgebung, sein Haushaltsrecht wurde erweitert, und es wählt den Chef der Exekutive, den Kommissionspräsidenten/die Kommissionspräsidentin. Weil somit künftig noch mehr von der politischen Zusammensetzung des Parlaments abhängt, erhalten die Europawahlen an Gewicht. Der Ministerrat berät und entscheidet künftig als Gesetzgeber öffentlich. Regierungschefs oder Minister können nun nicht mehr »Brüssel« für Fehlentwicklungen verantwortlich machen, für die sie selbst zuständig sind. Durch die Einführung doppelter Mehrheitsentscheidungen (Mehrheit der Mitgliedstaaten und drei Fünftel der Bevölkerung) wird eine Übervorteilung großer bzw. kleiner Mitgliedstaaten weitgehend verhindert.

In Bezug auf die Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik – diese Politikbereiche werden erstmals nicht mehr losgelöst voneinander betrachtet – ist in Artikel I-3 Absatz 3 ein Bruch mit der einseitig neoliberalen Ausrichtung der EU gelungen. Mit der Zielkorrektur in Richtung »soziale Marktwirtschaft«, »ausgewogenes Wirtschaftswachstum« und »Vollbeschäftigung« entstand eine Berufungsgrundlage für alle, die ein sozialeres Europa wollen. Bedeutsam sind ebenso die Ziele »Nachhaltigkeit« und »Verbesserung der Umweltqualität«. All dem steht bei Inneres und Justiz entgegen, dass das Europaparlament zum Beispiel an der strategischen Programmplanung im »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« nicht beteiligt ist. Der Ausstieg aus dem Euratom-Vertrag gelang bislang nicht.

Die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik vermittelt ein sehr heterogenes Bild. So gibt es Bestimmungen, die die EU erstmals zur Förderung des Friedens sowie zur strikten Einhaltung des Völkerrechts und Wahrung der UN-Charta verpflichten. Geschaffen wird das Amt eines EU-Außenministers. Durchzusetzen war aber nicht, die Rechte des Europaparlaments auszuweiten und Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat zu erreichen, weil dieser Politikbereich trotz einheitlichem institutionellen Rahmen auf EU-Ebene in nationalstaatlicher Hoheit verbleibt. Hierzu gibt es noch heftige Debatten. Inakzeptabel sind jene Festlegungen, die Militärinterventionen der EU befördern oder die Bildung einer Europäischen Rüstungsagentur, die mit der Verpflichtung der Mitgliedstaaten verbunden wird, »ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern«. Zu beachten ist, dass zivile Konfliktprävention und -lösungen Militärmaßnahmen vorgeschaltet werden. Neu sind Beistandsklauseln bei Terroranschlägen und Katastrophen sowie im Falle eines bewaffneten Angriffs von außen.

Der EU-Gipfel bei Thessaloniki bezeichnete den Text jetzt salomonisch als »gute Ausgangsbasis« für die im Herbst beginnende Regierungskonferenz. Polen und Spanien möchten einen Gottesbezug und die EU deutlicher auf die NATO einschwören. Luxemburg passt der Ratspräsident nicht. Österreich will ein anderes Kommissionsmodell. Befürchtet werden muss, dass erzielte Fortschritte gekippt werden. Deshalb sollte der Konvent weiter bestehen und die Regierungskonferenz als Korrektiv begleiten. So würde der Verfassungsprozess bis zum Abschluss transparent und nachvollziehbar.

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