Ein weiteres Mal hat sich Jürgen Habermas ins politische Handgemenge begeben. In der FAZ vom letzten Samstag hielten er und sein Philosophen-Confrère Jacques Derrida ein feuriges Plädoyer für "Kerneuropa", das als Lokomotive Gesamteuropas ein weltweit wirksames Gegenprogramm zu Bushs Hegemonialpolitik voranbringen soll. Habermas und Derridas Vorstoß kommt zu einem Zeitpunkt, wo die deutsche Öffentlichkeit zunehmend das Lied anstimmt: "Was geschehn ist, ist geschehn, man muss in die Zukunft schauen." Und wo sehnsuchtsvoll nach verzeihenden Gesten des Übervaters Ausschau gehalten wird. Angesichts der öffentlichen Demut kommt die Intervention genau zur rechten Zeit.
Aber basieren die Handlungsempfehlungen der beiden Denker wirklich auf einer realistischen Analyse der europäischen Zustände? Habermas, der den Text verfasste, bezeichnet vor allem zwei Daten des Jahres 2003 als Basis seiner Überlegungen; den Tag, als mit der Veröffentlichung des Briefs der 8 die von der Bush-Administration orchestrierte Spaltung Europas manifest wurde; und jenen 15. Februar, den Tag der großen Antikriegsdemonstrationen, von dem Habermas glaubt, er werde "als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichte eingehen".
Schon seit langem beschäftigt Habermas das Problem, wie weit Kollektive eine vernünftige Identität ausbilden können. In seiner Schrift "Die postnationale Konstellation" überträgt er diese Fragestellung auf die Europäische Union. Dabei muss er sich mit dem Argument auseinander setzen, dass nur der Nationalstaat kraft seiner Funktion als Wohlfahrts- und Kulturstaat die Bürger sozial integrieren könne. Von dieser Integrationsleistung aber hänge das "Wir-Gefühl", die Identität mit dem Gemeinwesen ab. Gegenüber dieser skeptischen Haltung führte Habermas ins Feld, dass es weit ausholende Vorgriffe geben könne und müsse, denen die Politik und die Institutionen "nachwachsen" würden. Eben hier kommen die multinationalen Bürgerbewegungen ins Spiel, durch deren Anstrengungen in den Medien, in Erziehung und Kultur, aber auch innerhalb der Institutionen europäische Öffentlichkeit geschaffen werde. Gerade die Demonstrationen vom 15. Februar waren die Geburtsstunde dieser Öffentlichkeit. Sie zeigten in ihren starken Emotionen ein europäisches Wir-Gefühl, eine Identität Europas als Friedensmacht.
Aber wie stabil, fragt Habermas, sind diese Gefühle? Er verankert sie in der bewussten Aneignung der Ergebnisse des europäischen Entwicklungswegs seit der Französischen Revolution: Privatisierung des religiösen Glaubens, Vertrauen in die kollektive Aktion und in die mögliche zivilisierende Kraft des Staates gegenüber den losgelassenen Marktkräften. Sensibilität angesichts von Leid und Verletzung als Ergebnis der verheerenden Kriege des 20. Jahrhunderts. Von hier aus schließt er, dass "die Domestizierung der Gewaltausübung auch auf globaler Ebene eine gegenseitige Einschränkung souveräner Handlungsspielräume verlangt".
Tatsächlich war die europäische Einigung auch Produkt eines Lernprozesses, Resultat der Erahrung, die die europäischen Völker mit Tod und Zerstörung gemacht haben. Ihr Erfolg und ihre Attraktivität ist indes in erster Linie auf die goldene Ökonomie zurückzuführen. Sie war es, die das Einheitsband stiftete, und zu ihren Trögen drängten sich die neuen Kandidaten bis hin zu der Eintrittswelle unserer Tage. Wie stark ist der Zusammenhalt jenseits der vier Freiheiten des gemeinsamen Marktes? Und die Attraktivität? Eine Motivsuche gerade bei den östlichen Eintrittskandidaten würde schwerlich die auf friedlichen Ausgleich, Supranationalität und "Weltinnenpolitik" gerichtete Mentalität offenbaren, die Habermas bei den Alteuropäern diagnostiziert.
Habermas müsste beweisen, dass eine auf den Ausbau des Völkerrechts zielende, die Weltorganisationen stärkende, auf Ausgleich mit der Dritten Welt bedachte und auf Kriegsverhütung basierende Politik sich quasi organisch an die Erfahrungen der europäischen Völker anschließen kann. Vor allem aber müsste er darlegen, dass eine solche Politik den gegenwärtigen Interessen und Bedürfnissen der Europäer entspricht. Hier ginge es einmal um den Nachweis, dass die Wirtschaftsmacht EU weltweit auf den Ausgleich von Interessen und auf friedliche Streitbeilegung angewiesen ist. Zum Zweiten aber und noch wichtiger wäre eine realistische Bestandsaufnahme, wie europäische Interessen heute subjektiv von den Bevölkerungen empfunden werden. Besonders hier lässt uns der Philosoph in Stich, erwähnt er doch die retardierenden Politiken und Gefühlslagen in Europa, die um Abschottung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus kreisen, mit keinem Wort.
Dennoch sollten Habermas und Derrida offene Ohren finden. Was sie schreiben, darf nicht als europäisches Selbstlob gegenüber den USA gelesen werden, sondern als Ansatz einer Chance, wie die Europäer für eine alternative Politik gewonnen werden können. Diese Chance zu ergreifen bedeutet Streit. Auch bei uns, im alten Europa.
Aus: taz Nr. 7068 vom 2.6.2003