Die Koinzidenz hatte es in sich. Da führten das Jubiläum in St. Petersburg und der G-8-Gipfel in Evian den amerikanischen Präsidenten am vergangenen Wochenende nach Europa, wo der Sieger des Irak-Krieges auf die Gefolgschaftsverweigerer aus Russland, Frankreich und Deutschland traf. Zur gleichen Zeit wurde ruchbar, was der stellvertretende US-Verteidigungsminister Wolfowitz ausgeplaudert hatte: «Aus bürokratischen Gründen», nämlich in taktischer Besorgnis um eine möglichst allgemein zustimmungsfähige Begründung für den Angriff auf den Irak, habe man das Thema Massenvernichtungswaffen betont. Die linksalternative «taz» in Berlin, um nur eine der heftigsten Reaktionen der deutschen Presse zu nennen, titelte daraufhin: «Die Kriegslüge». Das war ihr Aufmacher am Samstag, eine misstönende Begleitmusik zum Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter. Derweil boten die Feuilletons grosser europäischer Zeitungen emphatische Ermunterungen des kontinentalen Selbstbewusstseins durch bekannte Intellektuelle: durch Jürgen Habermas, Jacques Derrida, Umberto Eco, Gianni Vattimo, Fernando Savater und Adolf Muschg (NZZ 31. 5. 03). Transatlantische Schützenhilfe leistete Richard Rorty.
Die Koinzidenz der Ereignisse, Schlagzeilen und Aufrufe hatte es in sich, aber an den Reibungspunkten entwickelte sich keine Hitze. Die zerstrittenen Politiker kühlten ihr Zerwürfnis mit freundlichen Mienen, höflichen Gesten und Diplomatie. Gerhard Schröder betonte im Anschluss an den von George W. Bush empfangenen Händedruck, es gehe um den Blick nach vorn und nicht länger darum, «ein Stück Zeitgeschichte aufzuarbeiten». Kein Wort also zu Wolfowitz, kein Hadern mit der US-Kriegspropaganda. Und die konzertierte Aktion von Habermas & Co.? Sie brachte es noch nicht einmal zu einer Meldung in der abendlichen Tagesschau des deutschen Fernsehens, geschweige denn zum Tischgespräch in Evian. Macht und Geist, zwei geschiedene Sphären. Wie, wenn es anders wäre?
Man stelle sich für einen Moment vor, die am vergangenen Wochenende vereinten Regierungschefs seien engagierte Feuilletonleser und Philosophenfreunde, erpicht auf intellektuelle Voten. George W. Bush würde Schröder und Chirac wegen Habermas und Derrida zur Rede stellen, und der deutsche Kanzler dürfte den amerikanischen Präsidenten damit ärgern, dass es mit Richard Rorty immerhin sein Landsmann sei, der die Europäer zum Widerstand ermuntere gegen die «demütigende Bevormundung, die Washington ihnen aufzuerlegen hofft». Putin könnte anmerken, dass er sich als Russe von Habermas' Plädoyer für ein «avantgardistisches Kerneuropa», welches als «Lokomotive» den europäischen Einigungsprozess voranbringe, überfahren fühle. Und zu vorgerückter Stunde würde man sich dann an die harten philosophischen Nüsse wagen: Wie unbefangen der einstige Adorno- Schüler Habermas von «europäischer Identität» spreche; wie seltsam es sei, dass Derrida, der mit Adorno die Liebe zum Nichtidentischen teile, Habermas dabei assistiere . . .
Ehrenwerte Initiative
Staatsmänner in der philosophischen Beletage, ja, das hätte etwas. Anschliessend müssten sie freilich wieder ins politisch-pragmatische Erdgeschoss hinab. Aber auch von dort aus liesse sich ja der zentrale Text der konzertierten Intellektuellenaktion, und das ist nun einmal der Traktat des Initiators Habermas, erneut befragen, prüfen, kritisieren. Nun, es ist nicht dazu gekommen; die Feuilletons mussten nach der These auch das Geschäft der Antithese selbst besorgen. Am Montag waren zunächst die unbeteiligten Blätter an der Reihe: Die «taz» fand die Initiative ehrenwert, vermisste aber eine «realistische Bestandsaufnahme, wie europäische Interessen heute subjektiv von den Bevölkerungen empfunden werden». Weil so «wenig über die Gremien, die Europa ausmachen und den Europäern die fatalen Gewohnheiten austreiben» sollen, zu erfahren sei, bekundete die «Berliner Zeitung» ihre Enttäuschung. Die «Welt» fertigte den «linksliberalen Mainstream» in zwei Absätzen als altbacken ab. Der «Tagesspiegel» schliesslich hatte sein Missvergnügen daran, wie hier europäische Einigkeit «nur ex negativo, im blossen Widerspruch zu Amerika», definiert werde. Und heisse Eisen wie die strukturelle Krise der Uno oder die Provokation des Völkerrechts durch den nichtstaatlichen Terrorismus fasse Habermas«erst gar nicht an».
Zu viele kulturtheoretische Abstraktionen, zu wenig politische Substanz - das war der Tenor der ersten Kommentare. So durchweg kritisch waren sie gestimmt, dass der Mangel an Beistimmung gerade unter den deutschen Verhältnissen auch etwas Verblüffendes hatte. Waren viele Deutsche, in den Redaktionsstuben wie auf der Strasse, nicht im Grunde ihres Herzens dem grimmigen Donald Rumsfeld höchst dankbar gewesen für die Klassifikation als «alte Europäer»? Und nun, da Jürgen Habermas versuchte, dem wiedererwachten Kulturstolz ein Fundament in einer zwar antichauvinistischen, nichtsdestoweniger jedoch eigensinnigen «europäischen Identität» zu verschaffen, regnete es Einwände. Gestern sogar in der «FAZ», jener deutschen Zeitung, die seit Rumsfelds Provokation das europäische Selbstbewusstsein beschwört wie sonst kein anderes Blatt. Eine regelrechte Artikelserie hat sich da mittlerweile angesammelt, angefangen mit der Doppelseite, auf welcher man Ende Januar die Stimmen deutscher und französischer Intellektueller versammelte, bis hin zu dem Interview mit Emmanuel Todd am vergangenen Freitag, gleichsam dem Präludium für das tags darauf folgende Statement von Habermas und Derrida.
Was ist europäisch?
Gestern aber brach ein kühl gestimmter «FAZ»-Redaktor der europhilen Euphorie die Spitze. «Die Europäische Union ist kein geeigneter Gegenstand für kulturelle Sinnprojektionen», beschied Jürgen Kaube den Identitätsenthusiasten. Da liegt das Problem. Habermas möchte beides: der EU, deren Realität sich doch bis heute fast nur in ihrer monetären Einheit und als Verwaltungsmacht beweist, «eine gewisse staatliche Qualität» verschaffen, zugleich aber diesen höchst nüchternen staatlichen Rahmen emotional unterfüttern. So fragt sein Text nach historischen «Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften, die für europäische Bürger das Bewusstsein eines gemeinsam erlittenen und gemeinsam zu gestaltenden politischen Schicksals stiften». Und so unterscheidet Habermas den aus Individualismus, Rationalismus und Aktivismus gebildeten «geistigen Habitus», der für den ganzen «Westen» gelte, von einer durch spezielle Eigentümlichkeiten markierten europäischen Mentalität. Die Differenz zu den USA etwa in der Frage der Todesstrafe nennt er als Beispiel, auch die divergierenden Auffassungen über das freie oder aber staatlich moderierte Spiel der Marktkräfte. Europa sei skeptischer gegenüber den Versprechungen des Fortschritts, denke sozialer, fühle empathischer mit den Schwachen und sei durch den Holocaust besonders sensibilisiert.
Es ist nicht falsch, was Habermas aufzählt, und man kann ihm dankbar dafür sein, dass er die «europäische Identität» nicht bloss als leere hochtrabende Formel postuliert, sondern inhaltlich zu bestimmen sucht. Wer würde bestreiten wollen, dass es so etwas wie «europäisch sein» tatsächlich gibt, und sei die entsprechende Empfindung noch so vage? Und doch fällt einem zu jeder von Habermas als typisch europäisch verbuchten Eigenschaft eine Relativierung ein: sei es, dass nicht alle Europäer die jeweilige Mentalität teilen, sei es, dass man sie auch bei Amerikanern verbreitet findet. Kollektive Identitäten enthalten ihre Elemente nie rein, sie sind Mischungen, und wer sie entmischen und zu reiner Substanz destillieren möchte, produziert Phantasmen. Wie hatte Adolf Muschg am Samstag gewarnt? Jede Identität, die Europa «für sich allein reserviert», verfalle zwangsläufig verblendeter Anmassung. «Europa darf sich mit dem Tatbeweis seiner zivilen Existenz begnügen: auch das ein historisches Novum erster Güte.» Da ist der Schweizer Schriftsteller bescheidener als der deutsche Philosoph. Bekennende Europäer sind sie beide.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, Juni 2003