Türkischer Honig

Sind Muslime die wahren Christen? Sind Frauen mit Kopftüchern wirklich frei? Was die Türkei Europa lehren kann - Begegnungen mit Istanbul

Christian Schüle

Der volle Mond steht über dem Bosporus, und abends, auf dem Weg ins Morgenland, verkaufen schnauzbärtige Männer Rosen und Tulpen und Maroni und Sesamringe. Die Straße nach Asien ist verstopft, auf der viertgrößten Hängebrücke der Welt von Istanbul-Ortaköy nach Istanbul-Beylerbeyi herrscht das allabendliche Chaos: Hunger und Glaube treiben die Menschen zur exakt bestimmten Minute an den Familientisch; wer nicht hupt, lebt nicht. Gerade versinkt die Sonne hinterm westlichen Horizont, magenta ist der Himmel, in den die Kuppeln der Moscheen ragen. Dann, exakt um 16.39 Uhr, knistern die Lautsprecher an den Minarettbalkonen, und in Demut steigt der Muezzin ein: „Allah ist groß, kommet und erhebet euch…“ Polyfon verkünden jetzt 2340 Sänger die Erlaubnis zum Abendmahl – hält der eine eine lange Note, hört man nebenan den anderen ansetzen, verharrt die Stimme des einen oben, fällt die des anderen herab. Istanbuls Muslime essen ab 16.41 Uhr. Es ist Ramadan in Europa, und es ist Ramadan in Asien.

Auf dem direkten Weg vom Abend- ins Morgenland, über die weitgespannte Bosporusbrücke, endet Europa geografisch und symbolisch: als exklusive, zunehmend gottlose Kultur- und Wertegemeinschaft, deren Nenner, wie derzeit stets beschworen wird, universelle Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seien. Was hier angeblich endet, sagten und sagen deutsche Historiker, sei die Geschichte der Antike, der Renaissance, der Reformation, der Aufklärung und der Wissensrevolution. Was hier an seinem Ende sei, sei kurzum das Christentum und die Sprache seiner Selbstbeschreibung. Die muslimische Türkei, wo Troja, Ephesos und Pergamon liegen, ist jenes Land, das einem ratlosen Europa die Definitionsarbeit abnimmt: Das Europäische bestimmt sich über das, was nicht mehr europäisch sein soll – obwohl es dies partout sein will.

Auf dem EU-Gipfel in Helsinki 1999 wurde der Türkei der Kandidatenstatus in Aussicht gestellt. Bundeskanzler Gerhard Schröder betreibt die Anbindung der Türkei derzeit mit Verve, unterstützt von Frankreichs Staatspräsident Chirac. Inzwischen plädierte sogar Erzfeind Griechenland für die türkische EU-Mitgliedschaft, und die amerikanische Regierung sieht den Nato-Partner Türkei als europäischen Schlüsselstaat zur islamischen Welt und forciert deren EU-Beitritt aus erheblichem Eigeninteresse. Just haben die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder der Türkei in Kopenhagen den Beginn von Beitrittsverhandlungen im Jahre 2005 in Aussicht gestellt. Viele politische Brücken hat das Land seither errichtet, manche in der Tat, manche im Geist. Europa aber ist streng. Europa hat rationale Motive, vereinbarte Sitten, Prinzipien politischer Kultur. Europa definiert sein Selbstverständnis gegen das Kulturfremde, wie es sich bei einem Mann wie Ali Özgentürk offenbart.

Goethe, Lessing, Özgentürk

Die Augen: fast schwarz. Der Teint: dunkel. Die Haare: dunkelgrau gelockt. Der Handschlag: fest. Das Lachen: raumfüllend. Die Stimme: bassig. Schwarzes V-Shirt, schwarzer Schal, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Ali Özgentürk, Sohn eines Berbers, wurde in einem Dorf an der türkisch-syrischen Grenze geboren, etwa sechzig Jahre ist das her. Er ist Muslim. Vielleicht ist er Europäer. Zwanzig Filme hat er gedreht. Sein erster erhielt 1980 auf europäischen Festivals zahlreiche europäische Preise. Ein Film über eine anatolische Dorfliebe. Man mochte die exotische Komik. All seine Filme kritisierten die türkische Politik und den Dogmatismus der Eliten. Mehrmals saß er im Gefängnis, wurde gefoltert.

Ali Özgentürk ist eine Art türkischer Fassbinder, ein medienscheuer Exzentriker. Ein Philosoph der Künste ist er allemal: „Kennt ihr da drüben türkische Bücher, türkische Filme? Nein, aber wir kennen eure Schriftsteller und eure Filme.“ Wir – das heißt die ganze, sagen wir: die halbe Gesellschaft, nicht allein die geistige Elite der Türkei, und Ali Özgentürk führt Goethe an, Heine, Lessing, fügt Baudelaire und Rimbaud hinzu, sagt: „Vergangen“, und fährt fort: „Unsere Zivilisation ist die Poesie und Philosophie aus China, Japan, dem Iran, Arabien. Eure ist die Ökonomie.“ Weil sie den Westen kopieren, weil sie plagiieren und imitieren wolle, habe die Türkei sich selbst entfremdet. Mit lauter werdender Stimme, bei Fisch und Raki, spricht der Regisseur vom kulturellen Selbstmord. „Die Schönheit der Türkei“, sagt er, „besteht darin, sie nicht zu verstehen.“ Er lacht, nimmt seine junge, blonde Frau an die Hand, geht hinaus in die milde Istanbuler Winternacht und dreht sich noch einmal um. „Auch der Westen wird bald moderne Propheten brauchen.“

Unter der Hängebrücke hindurch, Stadtviertel Ortaköy, bevorzugte Hanglage, sitzt, im orangefarbenen Gebäude seiner Alarko-Holding, mit Blick auf den Bosporus und die Büyük-Mecidiye-Moschee, der 75-jährige Geschäftsmann Ishak Alaton. Er sagt, während sich ein dickbäuchiger Tanker nordostwärts in Richtung Schwarzes Meer fortschraubt: „In der Türkei gibt es keinen, absolut keinen Antisemitismus.“ Alaton ist Jude, in Istanbul geboren, er war Offizier der türkischen Armee, dann Arbeiter in Schweden. Sein Unternehmen wird im nächsten Jahr 50, es konstruiert Flughäfen und Brücken in Russland und dem Mittleren Osten, in Turkmenistan und Kasachstan. Im Regal steht Marx’ Kapital, Fotos zeigen die Alatons als Großfamilie, von draußen dringt das Rauschen der Autos herein, die oben, auf der Hängebrücke, von Europa nach Asien und von Asien nach Europa fahren. Alaton sagt, er sei türkischer Europäer. Er ist eine Art Offenbarung der Allgemeinvernunft – Alaton der Weise, wenn man so will, denn er teilt die Vision der Lessingschen Ringparabel. „Keine Mentalität ist aufgrund ihrer Geschichte so religionstolerant wie die türkische.“

Die Türken kennen die üblichen Argumente gegen sie, die widerstreitenden Positionen, die gehegten Vorurteile und gepflegten Ressentiments: West gegen Ost, Individuum gegen Umma, Selbstbestimmung gegen Scharia, Aufklärung gegen Dunkelheit, Menschenrecht gegen Gotteswort. Sie kennen die diffuse Islamfurcht und die in Europas kulturelles Gedächtnis eingesickerte Angst vor dem Wilden, Rohen, Fremden, den säbelschwingenden Osmanen ante portas, Wien 1683, sie kennen die versöhnungsresistenten Fronten im Ringen um eine Definition dessen, was gemeinsame Kultur sein könnte und was nicht. Der Konflikt, kurzum, gipfelt in der Frage: Können Islam und Christentum koexistieren, können ihre Lebensformen einander dulden?

In einem Nu dann, in Ishak Alatons schnörkelloser Diktion, erhält die Frage der befürchteten Türkisierung Europas und der ersehnten Europäisierung der Türkei einen fast heiligen Ernst. „Europas Christen haben eine völlig falsche Vorstellung von der Türkei als einer vorrangig monolithisch muslimischen Einheit. Die Türkei ist in erster Linie multikulturell, dann republikanisch und zuletzt auch muslimisch. Es kümmert hier keinen, ob Frauen verschleiert oder in Miniröcken gehen oder Männer im Ramadan rauchen oder fasten. Jeder kann machen, was er will.“

Eben das ist beinahe tragisch: In der Tat konnte bisher in der Türkei nicht jeder machen, was er wollte. Aus Angst, die manche Phobie, andere Paranoia, dritte Irrsinn nennen, hat – in seiner Sehnsucht nach Verwestlichung – der türkische Staatsapparat im Namen der Zivilisation jede islamische Regung unterdrückt: Parteienverbot, Anklagewut, politischer Bann. Frauen ist es bis heute nicht erlaubt, Kopftuch in Schulen und Universitäten zu tragen oder im öffentlichen Dienst mit Kopfbedeckung zu arbeiten; die Verfassung verbietet die öffentliche Verwendung islamischer Anreden wie Hoca oder Effendi.

Der bewusste Verstoß gegen demokratische Grundprinzipien im Namen der Demokratie hat seine Wurzeln im Jahre 1923. Damals trug der Bürgerkriegsheld Mustafa Kemal Pascha in einer Art friedlichen französischen Revolution das Ottomanische Reich zu Grabe. Er schaffte das Kalifat ab, die Polygamie, ersetzte die arabische durch die lateinische Schrift, tauschte den Islamischen gegen den Gregorianischen Kalender. Er wechselte Monarchie gegen Republik, wandte dem Orient den Rücken zu und schrieb eine Verfassung nach europäischem Vorbild: italienisches Strafrecht, deutsches Handelsrecht, schweizerisches bürgerliches Gesetzbuch. Er verordnete der just geschlüpften Republik einen prinzipiellen Laizismus, die Trennung von Kirche und Staat. Der General hatte für seine Republik ein Ziel: die Zivilgesellschaft in einer pluralistischen Demokratie. Es war die Geburt einer Obsession aus dem Geist der Utopie. In den nachfolgenden Dekaden wurde der Marsch auf säkularen Pfaden in die europäische Zivilisation zur mentalen Diktatur. Jener Mann, der keine offene Geistlichkeit mehr wollte, der areligiös war und Gott aus öffentlicher Rede und Politik verbannte, wurde von seinen Nachfolgern zu einem Heiligen erhoben. Noch heute entkommt man seinen Ikonen nicht: man sieht ihn zu Pferde, zu Fuß, zu Hause, sinnierend, posierend, in Büsten, Statuen, Fotos, Gemälden, man liest ihn aus Sprüchen und Aphorismen heraus, den Gott der säkularen Republik, den Vater der Türken: Atatürk.

Laszive Posen in Rodeojeans

Vor der Blauen Moschee in Sultanachmed, Istanbuls Altstadt, wo es aufs Erste keine sichtbare Atatürk-Ikone gibt, essen langbärtige Mittdreißiger kleine pralle Würste, sitzen Frauen, schwarz und dunkelblau verschleiert, auf dem staublosen Boden, Schmuck und Textilien anpreisend. Nebenan, im alten konstantinopolitanischen Hippodrom, fängt eine junge Grazie mit Rodeojeans in lasziver Pose Männerblicke ein, während ein grauhaariger Uhrenhändler mit braungefärbtem Schnauzer am Obelisken zwei blondierten Russinnen auf Plateausohlen begegnet. Mütter, Väter, Kinder, Paare flanieren, aus den Buden stampft türkischer Pop, im Zelt wird für die Türken türkischer Bauchtanz zelebriert, Marktschreier in osmanischem Kostüm samt weinrotem Fez preisen süße Mandelmilch, Straßenkehrer pellen Pistazien, Beinlose bitten um Almosen, und introvertierte Träumer werben sanft für geistliche Literatur, und über allem hängt ein Transparent: Ramadan is the hope for all the world.

Vor der Blauen Moschee ist Kirmes, organisierte Fröhlichkeit zur Feier des Propheten, vor sieben Jahren ins Leben gerufen vom damaligen Oberbürgermeister Recep Tayyip Erdogan, der vor kurzem die gesamte Atatürkei zur Implosion brachte und seither weltgewandte Sozialdemokraten wie islamische Gelehrte in seltsame Verzückung versetzt. Von einer fantastischen Chance für die Türkei redet die gesamte Presse des Landes, von der Chance auf ein Musterbeispiel islamischer Demokratie, da auch Erdogan ein vom Laizismus gebranntes Kind sei, vom Staat verfolgt, drangsaliert, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, eingesperrt und vorbestraft, weil er 1998 ein Gedicht des Nationalisten Gokalp vom Anfang des 20. Jahrhunderts rezitierte: „Die Moscheen sind unsere Kasernen / die Kuppeln unsere Helme / die Minarette unsere Bajonette / und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Mit dem, wie es heißt, „historischen“ Sieg von Erdogans gemäßigt islamischer Partei Gerechtigkeit und Erneuerung (AKP) bei den Parlamentswahlen am 3. November hat ein neues Zeitalter begonnen. Eine politische Supernova. Die Verbannung der korrupten, gegen jede Volksfrömmigkeit mit der Sensibilität eines osteuropäischen Politbüros agierenden Links-Parteien durch das frei entscheidende Volk: die Sehnsucht nach Ehrlichkeit. Der Sieg der neuen Freiheit. Wahre Demokratie. Europatauglichkeit. Nichts in den ersten Aussagen und Taten der von ihm gesteuerten AKP-Regierung deutet darauf hin, dass die Hoffnung des Volkes enttäuscht werden soll – wenn es später etwa, sollte Erdogan im In- und Ausland erst einmal akzeptiert und legitimiert sein, eine Refundamentalisierung der Türkei geben könnte. Die vornehme und vornehmliche Lesart des „neuen Zeitalters“ ist folgende: Demokratie in Europa wäre das Recht jeder Frau, kein Kopftuch zu tragen; Demokratie unter Erdogan ist das Recht jeder Frau, ein Kopftuch zu tragen. Die Türkei ist auf der Suche nach ihrer Seele, und Erdogan will Europa, wie sie alle Europa wollen, weil „Europa“ Wohlstand heißt und Freiheit. Und Erdogan will die Demokratie, weil er sie selbst braucht. Das ist weitgehend Konsens in der gegenwärtig erwartungsfrohen Türkei. Selbst Abdurraham Dilipak ist zuversichtlich.

Oben, auf der asiatischen Seite Istanbuls, hügelwärts auf Kopfsteinpflaster durch einen Park mit Feigenbäumen, steht ein Restaurant, dessen kleiner Pavillon das Imitat eines sultanischen Haremsgemachs im Topkapi-Palast ist. Leer ist der Saal, halb drei am Nachmittag, zwei Stunden vor Iftar, wie die Zeit heißt, da Muslime im Heiligen Monat wieder essen dürfen. Beflissene Ober mit Fliege und in weißem Hemd decken kurzbeinige Tische für eine der Ramadan-Großgesellschaften. Auf einer niedrigen Couch mit geblümten Polstern, gegenüber dem Kamin, sitzt, die Beine von sich gestreckt, ein stattlicher Mann mit großer getönter Rundbrille, dunkelgrauem Haarkranz und schwarzem Vollbart. „Professioneller Angeklagter“, stellt sich Abdurrahman Dilipak vor, Autor von 45 Romanen, Essays und Betrachtungen, Maler, Judotrainer, Kolumnist und Theologe und eine der einflussreichsten Stimmen des konservativen, fundamentalistischen Lagers.

Hundert Klagen hat der türkische Staat über die Jahre gegen Dilipak angestrengt, siebzehn Prozesse wegen Verstoßes gegen den Laizismus sind zurzeit gegen ihn anhängig – immer wieder haben er und seine Freunde der Bürgergruppe „Gedankenfreiheit“ dem laizistischen Establishment verbotene Islamismen entgegengeschrien: „Effendi!“, „Hoca!“ Erst schrie einer und dann, als der Staat reflexhaft klagte, auch die anderen. Sie haben sich sogar das Recht genommen, die ewigen, unveränderlichen zehn Paragrafen der säkularistischen Verfassung auf ihre Richtigkeit zu hinterfragen, was in der Türkei niemand ohne weiteres tun darf. „Wir haben etwas gemeinsam“, sagt Dilipak, „die Politiker und Historiker bei euch und bei uns haben zu gleichen Teilen ein sehr niedriges intellektuelles Niveau, sie spielen mit Ängsten, statt mit Hoffnungen zu handeln.“

Aus dem sonoren Gleichklang einer pessimistischen Weltbetrachtung schält sich rasch Dilipaks Leitmotiv heraus: die Verschmelzung von islamischer und christlicher zur einer eurasischen Kultur. Ost wie West – einerlei, alles gehört Gott allein. Eine Theokratie lehnt er ab, weil der wahre Islam den Gottesstaat überhaupt nicht zulasse. Zwischen dem Einzelnen und Gott kann niemals eine Organisation stehen, weder Staat noch Kirche, der Islam ist kein hierarchisiertes Organisationssystem wie das Christentum. „Wir wollen nichts weiter als eine wahre Demokratie: Grundrechte, Menschenwürde, Toleranz gegenüber Andersdenkenden. In der Türkei ist es ein Verbrechen, religiös zu sein und zugleich Freiheitsrechte zu verlangen.“

99 Namen Gottes

Im Teehaus an der Fatih-Moschee trinkt niemand Tee, niemand Alkohol, niemand raucht Wasserpfeife, niemand Zigarette. Es ist früher Nachmittag, 16 Männer sitzen an sechs Tischen. Zwei lesen Zeitung, andere spielen mit der Tesbih, drehen die 33 Kugeln ihrer Gebetskette, drei Runden, bis die 99 Namen Gottes durch sind, manche murmeln, dann drehen sie erneut, und sie drehen, bis es dunkel wird. Geredet wird nicht. Ein Greis döst mit dem Kopf auf der Tischplatte, die anderen stieren auf den Fernseher unter der Decke, auf Canal 7 läuft ein Zeichentrickfilm, und das Quaken der Figuren ist der einzige Laut im Raum. Die Fenster sind beschlagen, die Luft ist verbraucht, und an der eierschalfarbenen Wand hängt, vis-à-vis dem Poster mit kalligrafisch zarten Suren, ein Gemälde von General Atatürk im Pelzmantel.

Fatih ist das, was Europa nicht sein will und nach Meinung deutscher Christdemokraten und manch anderer auch nicht sein soll. Das an Istanbuls Altstadt grenzende Viertel ist der Spiegel einer anderen Welt. Die Frauen gehen im Çarsaf, jener Ganzkörperverhüllung aus schwarzer Kunstseide, oder sie gehen mit Kopftuch. Stets gehen sie aufrecht. Sie kaufen frische Sardinen, Brot und Stoffe im Textilgeschäft, das Tekbir heißt wie der erste Schrei des Muezzin, Tekbir verkauft Frauenkostüme in Hellbraun, Tücher und Pullover in Rot, Hellblau und Lila. Die Patisserie an der Ecke zur Moschee heißt, übersetzt, „Ich tue es in Gottes Namen“. In Fatih begrüßt man sich mit Salam aleikum, und über die trostlosen Straßen, durch die allein die Nachmittagsgesänge des Muezzin schallen, schiebt ein Sperrmüllhändler von gerade 15 seinen holpernden Wagen.

Zuerst war es die auf gut Glück hingeworfene Frage an einen alten Mann vor der unbestuhlten Terrasse eines Teehauses:

„Salam aleikum, vertragen sich Ihrer Meinung nach türkische und europäische Kultur?“

„Ach was“, sagt der Mann und hebt seine Mütze, „die Türken sind doch viel zu dumm…“ (die anderen horchen auf) „…wozu braucht die EU unsere dummen Bauern und Zigeuner?“

(Junge Männer, die Lederjacken tragen, kommen hinzu, Alte mit Anzug und grauem Vollbart, es entspinnt sich eine Debatte über das Verhältnis von Christentum und Islam, Europa und Orient)

„Wir müssen mit aufgenommen werden.“

„Aber unser Geld ist tot. Amerika hat unser Geld getötet.“

„Und die Christen werden sich nicht ändern.“

(Einer spuckt aus, eine Möwe kreischt, der Sardinenverkäufer macht großen Umsatz)

„In Bosnien hat man es gesehen: Christen und Muslime passen nicht zusammen…“

„…doch nur, weil die Toleranz gefehlt hat…“

„Und die Frauen, das Kopftuch, die Unterdrückung?“, wirft man dazwischen.

„Der Koran sagt, die Frau soll sich bedecken…“

„…das hat neulich auch der Imam gesagt.“

„Jede soll doch gehen, wie sie will.“

„Ja, Hauptsache, die Mentalität ist menschlich.“

(Drei vermummte Frauen, schwarzer Umhang, mit Kindern an der Hand, kommen vorbei. Der Teehausbesitzer beginnt, Stühle auf die Terrasse zu stellen)

„Europa ist viel fortgeschrittener als wir Türken…“

„Die Türkei soll so werden wie Deutschland: korrekt und ordentlich.“

„…was der Islam uns vorschreibt, das wird doch heute in Europa verwirklicht.“

„Was wäre denn heute das typisch Islamische – die alten osmanischen Werte?“

„Hilfsbereitschaft, ja, und…“

„…oooh, wir können feiern, Hochzeit, Verlobung, Beschneidung, Schulabschluss, das sollten Sie mal erleben, Musik, Tanz, das Essen…“

„…und Gastfreundschaft…“

„…und Offenheit.“

„Letztlich sind wir alle Brüder“, sagt der Alte, zieht seinen Ausweis aus der Tasche, rückt die Mütze gerade und stellt sich als Osman vor, Jahrgang 38, 16 Jahre bei Mannesmann in Düsseldorf gearbeitet, 16 Jahre!

Jene, die für einen EU-Beitritt ihres Landes kämpfen, wissen, dass die Türkei noch nicht reif ist für Europa. Noch immer gibt es eine Willkürjustiz, allzu schnell anklagende Staatsanwälte, eigenmächtige Staatssicherheitsgerichte, Korruption. Noch immer spielt das Militär, selbst ernannter „Wächter der Demokratie“, eine aktive, unrühmliche, jedenfalls erhebliche Rolle im Staat. Noch immer werden Kinder in den Schulen nicht animiert, ihre Meinung zu äußern. Noch immer kursieren Berichte über Folter und systematische Unterdrückung politischer Opponenten, einfacher Krimineller, vor allem Kurden und auch Minderjähriger. Noch immer sind in ländlichen Gebieten Frauen in ihren Häusern eingesperrt, werden Mädchen gegen ihren Willen verheiratet. Und bis heute genießen türkische Polizisten den Ruf äußerster Brutalität.

Das alles soll sich, als groß angelegtes Plädoyer für die türkische Europareife, gleichsam aus dem Stand ändern. Ministerpräsident Abdullah Gül sagte nach seinem Amtsantritt Mitte November, seine Regierung werde die Europäische Union „mit der Umsetzung vieler Reformen schockieren“. Die Metamorphose hat bereits begonnen. Vergangenen August, unter der alten Mitte-links-Koalition Bülent Ecevits, hatte das türkische Parlament, ganz ohne Widerstand des Militärs, die so genannten Anpassungsgesetze an die EU verabschiedet und damit den „Kopenhagener Kriterien“ (freie Marktwirtschaft, Menschenrechtsschutz, Minderheitenregelung) ostentativ Folge geleistet, Ende November bereits legte die neue AKP-Regierung ein Paket von 36 Gesetzesänderungen nach. Das heißt: Abschaffung der Todesstrafe (auch in Kriegszeiten), Verbot der Folter, Ende der Straffreiheit von Polizisten, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, freier Gebrauch der kurdischen Sprache, Kurdischunterricht und kurdische Rundfunkkanäle. Schon 2001 ist eine Zivilrechtsreform über die Bühne gegangen, die vor allem die rechtliche Stellung der Frau verbesserte. In Polizeischulen soll darüber hinaus künftig Menschenrechtsunterricht stattfinden, Ärzten, die falsche Gutachten ausstellen, droht der Approbationsentzug. Aus europäischer Sicht ist all das selbstverständlich, aus türkischer eine hoch emotionale Selbstverwandlung. Hat sich die Türkei auf einmal zu einem demokratischen Staat im westlichen Sinne gestanzt?

Yusuf Alatas möchte das so nicht unterschreiben. Er ist Rechtsanwalt in Ankara und Vizepräsident des türkischen Menschenrechtsvereins. „Natürlich haben wir westliche Standards noch nicht erreicht.“ Verglichen mit der Situation vor wenigen Jahren aber, da im Osten des Landes Angeklagte kein Recht auf einen Anwalt hatten, da die U-Haft ohne Anklage Monate gedauert habe, da systematisch gefoltert wurde, sei die Lage sehr viel besser geworden. Alatas lobt die neuen Gesetze und verweist auf das bessere Klima seit der Verhaftung des PKK-Führers Öcalan 1999 und der Erklärung der PKK, die Waffen niederzulegen. „Den neuen Gesetzen muss jetzt ein neues Bewusstsein, der Wille von Polizei und Militär zur Ausführung folgen. Noch werden die Folterer von einst nicht ernsthaft belangt.“ Die Türkei habe Europa in der Vergangenheit oft genug belogen, sagt Alatas, habe Menschenrechtsabkommen unterschrieben, sich dann aber nicht daran gehalten. Im Fall eines EU-Beitritts der Türkei könnte der große Menschenrechtspädagoge Europa seinen neuen Zögling zur zivilgesellschaftlichen Reife erziehen. Solche Hilfe wünschen sich nicht wenige.

Direkt am Marmarameer, in Eminönü, nicht weit vom Topkapi-Palast, dort, wo die besten Kalligrafen des Landes ihre kleinen Studios haben, steht die Kleine Hagia-Sophia-Moschee und zerfällt. Ihr rotbäckiger Imam ist 34 und, wie alle Imame, Angestellter des Staates, dessen Direktorium für Religiöse Angelegenheiten die Vorbeter bezahlt. Der Imam der Kleinen Hagia-Sophia-Moschee heißt Achmed und trägt einen verlotterten hellgrünen Anzug.

Frage: „Unterdrückt der Islam die Frau?“

„Der Koran“, sagt Imam Achmed, „schreibt vor, dass die Frauen sich bedecken sollen.“

„Ist der Islam vereinbar mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frau?“

Das Kopftuch, meint der Imam, sei eine Art Gebet, das Gott den Frauen vorgeschrieben habe.

„Die Frau wird also in ihren Grundfreiheiten nicht eingeschränkt?“

„Nein, der Islam misst der Frau einen sehr hohen Wert bei.“

„Welchen?“

Ein Zug nach Westen rauscht vorbei. Das letzte Laub des vergehenden Herbstes rieselt in die Vorhalle der Kleinen Hagia-Sophia-Moschee, die als byzantinische Kirche unter Kaiser Konstantin entstand. Der Imam schweigt.

„Welchen Wert misst der Islam den Frauen bei, Imam Achmed?“

Der Imam überlegt. Er überlegt lange. Es ist still. Kinder spielen Fußball. Der Imam spielt mit den Fingern. Er starrt aus dem Kabuff. Dann zitiert er den Koran. Ein Zug fährt ostwärts, der Boden bebt. Nein, dem Imam fällt zum hohen Stellenwert der Frau nichts ein.

Koran und sexuelle Freiheit

Nach viel reflektierter und unreflektierter Begeisterung über die Metamorphose der Türkei und die zahme, die tolerante, die türkische Variante des wahren Islam ist es an der Zeit, nach Asien zu fahren und die Frage nach der sexuellen Selbstbestimmung von Ayse Kucur zu stellen. Sie wohnt in Istanbul-Kadiköy, 20 Autominuten vom europäischen Zentrum entfernt. Die vier Brüder Kucur, ihre Frauen und Kinder haben sich beim Ältesten zum Freitagsmahl eingefunden.

Die Oberschichtfamilie Kucur ist eine konservative Familie: Die Frauen tragen Kopftücher, sind schweigsam; während die Männer reden, bereiten sie das Essen. Im ganzen Zimmer hängen gerahmte Drucke, ausgewählte Suren und arabisch verfasste Kalligrafien des Namens Allah. Sadi, der Älteste, ist Professor für Mittelalterliche Islamgeschichte an der Marmara-Universität, Ayse ist Sadis Frau und Englischlehrerin am Gymnasium. Ayse Kucur war einmal die jahrgangsbeste Studentin, ihr Englisch ist akzentfrei. Sie trug das Kopftuch, weil der Prophet das vorschreibt. Deshalb erhielt sie keine Lehrerlaubnis als Universitätsdozentin.

Ayse hat gekocht. Es gibt mehrere Gänge: Linsensuppe, Reisfleisch, Hühnchenbrust, Salat, Käse, Tee und Früchte. Die Kinder tollen herum, aus dem Rekorder schweben die Klänge der klassischen Bambusflöte. Das Thema des Abends soll die Fusion der Kulturen sein, dann aber kommen auch die anderen Fragen zur Sprache. Die Offenheit ist bemerkenswert, die Selbstkritik erstaunlich: Gewiss müsse die Türkei das Problem mit dem Kopftuch endlich lösen, und ja, man habe versäumt, den eigenen Islam nach dem 11. September als gewaltfrei und offen darzustellen. Während die vier Frauen abräumen und auftragen und die schreienden Kinder ermahnen, entbrennt eine Tischdebatte über individuelle Freiheit, universelle Werte, Freizügigkeit und Gleichstellung der Frau. Allmählich reden die Brüder sich in Rage.

Sadi: „Europa will seine Vorurteile nicht aufgeben.“

Samil: „Für uns ist die westliche Kultur keineswegs vollkommen.“

Sadi: „Wohin führen uns denn die Freiheiten, die uns Europa anbietet? Einsamkeit und Verzweiflung.“

Samil: „Wir glauben an den islamischen Sufismus, der lehrt, Selbstsucht sei schlecht. Das ist schwer vereinbar mit westlicher Kultur.“

Der Gast: „Sie werfen dem Westen eine korrumpierte Moral vor?“

Sadi: „PR für sich, diese Egomanie finden wir unhöflich. Das höchste Ziel ist nicht der einzelne Mensch, sondern Gott. Wir plädieren für etwas mehr Demut.“

Tee ist eingeschenkt, die Kinder sind nebenan. Es ist so weit. Ayse Kucur ergreift das Wort. Es herrscht absolute Ruhe. „Ich“, sagt Ayse, „fühle mich überhaupt nicht unterdrückt, weder sexuell noch sonstwie. Ich möchte das Kopftuch tragen, und jede, die das nicht will, soll es nicht tun.“ Und dann fallen die Sätze, die den zum Staunen bereiten Gast aus dem Westen verblüfft zurücklassen. „Je mehr man den Regeln des Koran gehorcht“, sagt Ayse, „desto freier ist man. Frauen, die das Kopftuch tragen, machen vom individuellen Recht auf die Freiheit des Willens Gebrauch. Das ist wahre Freiheit.“

Der Muezzin lädt zum 19-Uhr-Gebet, die Männer stürmen, manche barfuß nach ritueller Fuß- und Gesichtswaschung am Brunnen im Innenhof, in die Laleli-Moschee, wo der Imam bereits Allah besingt: „Erhebt euch zum Gebet fürs Jenseits und für die Freiheit.“ Die Gläubigen suchen ein freies, abschließbares Kästchen, in das sie ihre Schuhe stellen können, ein letztes Husten, totale Stille. Niederfallen. Aufstehen. Niederfallen.

Wird Europa anatolisiert?

Die Liturgie einer tiefen Verbundenheit mit einem Gott, der, nach Aussage des Islamgelehrten Abdurrahman Dilipak, der gleiche sei, den die Christen anbeten. Er sei, sagt Dilipak, in keiner Hinsicht Europäer. Er sei Anatole. Adam, Noah, Abraham, der Prophet, die Armenier, Griechen, Christen, die Juden, ja auch die Teufelsanbeter seien aus dem anatolischen Kernland gekommen. „Es ist das Tor der Welt, durch das seit je Kulturen und Völker gehen und zusammentreffen. Dieses Land ist nicht die Türkei. Dieses Land ist heilig.“

Dilipaks Ausführungen heißen, zu Ende gedacht, dass bei einem Beitritt in die EU nicht die Türkei europäisiert, sondern Europa anatolisiert, an seine Wurzeln angeschlossen wird. „Es kann keine Kultur geben, die für das Zusammenleben besser geeignet ist als die anatolische.“

„Sie meinen also, wir haben dieselben Werte in Ost und West?“

„Wenn ich richtig informiert bin, gibt es auch im Westen Humanität und Frieden.“

Welche Süffisanz! Dilipak verbannt jeden Spaß.

„Wussten Sie, dass die größten Heroen der europäischen Zivilisation Muslime waren?“

„Aha…“

„Goethe und Kant. Die besten Scharniere zwischen euch und uns.“

Die Türkei, sagt Dilipak im Gehen, sei die letzte Chance für Europa, den erstarkenden Islam zu verstehen. „Sehen Sie sich Europa an – vier Millionen Muslime leben in den EU-Staaten. Wir sind doch schon längst da!“

Die Mitgliedschaft der Türkei in der EU ist, bei aller multikultureller Träumerei, letztlich ein Kosten-Nutzen-Kalkül. Die Inflation ist so hoch, dass eine zehnminütige Taxifahrt 30 Millionen Lira kostet; das türkische Jahresbudget reicht nicht, um die Zinsen zu tilgen, das Bruttosozialprodukt ist nicht höher als das einer deutschen Großstadt, wegen der Armut ihrer Eltern können zwei Millionen Kinder nicht zur Schule gehen. Aber.

Sodann legt Mehmet Altan los. Der Weg sei entscheidend, so der Professor für Ökonomie an der Istanbul-Universität und Mitbegründer der Initiative Europäische Bewegung 2002, ein erklärter Linker. „Die Türkei wandelt sich gerade von Grund auf, atmet den europäischen Geist, den viele andere Beitrittskandidaten nicht atmen. Wenn die EU die Türkei jetzt zurückweist, wird sie zu einer endgültigen Selbstverwandlung nicht mehr fähig sein und nach Osten abdriften.“ Was einer als Mahnung verpackten Bitte gleichkommt und zu folgender Pointe führt: „Die Kultur eines Landes ändert sich mit den wirtschaftlichen Produktionsbedingungen. Es geht jetzt nicht mehr um die Frage: Christ oder Muslim?, sondern darum, ob die Gehirne fähig sind, sich den globalen Herausforderungen anzupassen. Wir leben im postindustriellen Zeitalter, aber Europa stellt die Fragen des vergangenen Industriezeitalters.“

In der Parteizentrale der einzig verbliebenen Oppositionspartei CHP ist das neue Büro von Kemal Dervi≠. Der Wirtschaftswissenschaftler war Vizepräsident der Weltbank, kam in die Türkei zurück, wurde unter den Reformwilligen zum Messias stilisiert, bereits als künftiger Ministerpräsident gehandelt und ging als Staatsminister für Wirtschaft vor eineinhalb Jahren in die Regierung Ecevit, die er mit seinem vorzeitigen Rücktritt zum Einsturz brachte. Recht besehen, ist Dervi≠, wider Willen, verantwortlich für den Sieg der AKP.

„Jetzt haben wir klare Strukturen und klare Mandate. Die Atmosphäre im Land hat sich seit der Wahl sehr verbessert.“ Dervi≠ verkauft die Türkei als Beispiel einer unerhörten Gesundung, der kranke Mann am Bospurus ist ein vorbildlicher Rekonvaleszent: seit Jahrzehnten freie Marktwirtschaft, die Industrie stärker als die vieler osteuropäischer Länder, die Türkei um 50 Prozent reicher als Rumänien und Bulgarien, das Wirtschaftswachstum 2003 mit fünfeinhalb Prozent das höchste in ganz Europa. „Die Wirtschaftskrise ist bewältigt.“

Man darf das Land kritisieren, aber man muss es erst verstehen wollen, das verlangen die Türken. Sie wissen, dass sie den Preis für den Terror des bin Laden, der Selbstmordattentäter und islamistischen Brandstifter auf Bali und in Kenia zahlen. Und das Erste, was sie meist sagen: Die Türkei ist nicht al-Qaida. Die Türkei ist nicht Arabien. Die Türkei pflegt einen anderen Islam. Der türkische Jude Alaton nennt ihn humanistisch-offen, von jedem Fanatismus weit entfernt.

Andersherum gefragt: Was gewänne Europa mit der Türkei? Warum sollte man ein Volk mit vornehmlich ländlichen Strukturen, 40 verschiedenen ethnischen Identitäten und 20 verschiedenen Glaubensrichtungen als Teil einer neu zu schaffenden Identität begreifen? Man gewänne, sagen so unterschiedliche Geister wie Altan und Alaton, Dilipak und Dervi≠ gleichermaßen, neue Ideen, neue Menschenbilder, kulturelle Vielfalt; man gewänne die wertvolle Anbindung an die erstarkende islamische Gemeinschaft; man gewänne das in jeder Hinsicht bedeutsame Scharnier zum östlichen Teil der Einen Welt, die Pionierleistung einer islamischen Demokratie, als Signal an Iran, Syrien, Irak; hinzu kämen unschätzbare Gold-, Borax- und Ölressourcen. Eine europäische Türkei, so die Synthese, sei die beste Waffe gegen Angst vor dem extremistischen Islamismus. „Sehen Sie nach Europa“, sagt Ilnur Cevik, der in England geborene Chefredakteur und Herausgeber der Turkish Daily News in Ankara, „die Gesellschaften sind im Begriff, ihre Normen zu verlieren, der christliche Glaube nimmt ja stetig ab, Werte wie Respekt vor den Alten oder der Familie verschwinden. Die Türkei könnte helfen, diese gemeinsamen Werte wieder zu stärken.“ Und über all die geostrategischen und polittaktischen Kalkulationen hinaus, heißt das schließlich, gewänne man das Östliche zurück, ohne welches das Westliche nicht denkbar ist.

Kranke Seelen im Westen

Der halbe Mond steht über dem Bosporus, goldgelb. Fern hört man die Straßenbahn heransurren, aus einer unsichtbaren Ecke, aus einem geöffneten Fenster erklingt die asiatische Flöte. Istanbul-Gülhane, dritter Stock, wenige Meter von Hagia Sophia und Blauer Moschee entfernt. Zwanzig Personen sitzen im Raum des Zentrums für Musiktherapie Tümata und zupfen und schlagen Rübab, Kopuz und Tar und singen mit geschlossenen Augen. Sufi Oruc Güvenc, der seit 20 Jahren Seminare im Westen abhält, doziert über kranke Seelen in kranken Körpern: „Die Menschen im Westen haben schon alles erlebt und gehabt, sie sind leer. Mensch und Geist sind auseinander getreten.“

Und dann, für kurze Zeit, geraten die Musizierenden in die heilende Nähe der zentralasiatischen Meditations- und Ekstasemetaphysik aus dem 13.Jahrhundert, die vor einigen Jahren auch im Westen wiederentdeckt wurde, das spirituelle Mehr hinterm reinen Rationalismus. Sufi Oruc schließt die Augen, spricht langsam und ohne Modulation. „Jetzt merken die Menschen im Westen, dass es viele Gefühle gibt, die ihnen nicht bewusst waren – Liebe, Treue, Geduld, Gelassenheit. Die Türkei kann dem Westen helfen, zu sich selbst zu finden.“ Dann spielt der Sufi die Flöte in zarter Melancholie, und für lange Zeit hört er nicht mehr auf, und nebenan knistern die Lautsprecher, und dann ruft der Muezzin zum Gebet.

Aus: DIE ZEIT 52/2002