Letzten Montag rief mich ein deutscher Freund, der auch Türkisch kann, an. Er hatte ein Bericht in der Tageszeitung »Hürriyet« gelesen. Am Telefon konnte ich seine Empörung spüren: »Kannst du dir das vorstellen? Da werden 5 bis 6 kurdische Guerilla von 20.000 Soldaten umzingelt und vernichtet, während mehr als Tausend Zivilisten im Kampfgebiet dem Treiben zuschauen und applaudieren, als ob sie sich ein Fußballspiel anschauen würden. Ich kann es nicht fassen.« Als ich ihn die Entwicklung in der Türkei darstellte, dass das erwartet wurde, die gesellschaftliche Spaltung sich vertiefen, die unmenschliche Politik wahrscheinlich sich noch mehr verschärfen werde und die Krise das gesamte Gebiet gefährde, hörte ich ihn sagen: »Gott sei Dank, dass wir in Deutschland leben«.
Ich musste lachen und versuchte ihn zu erklären, das, was in der Türkei passiere, auch hier in Deutschland in anderen Formen passieren könne. Immerhin hat ja Deutschland auch seine »Terrorgefährdung« und es leben Millionen von potentiellen »Terroristen« im Land. Doch er war nicht sehr überzeugt davon. Nicht umsonst ist Europa ein Raum der Aufklärung, des Wohlstandes und der Demokratie.
Dann bekam ich von unerwarteter Seite Unterstützung meiner These. Der deutsche Staat hatte am Mittwoch zugeschlagen. Bezugnehmend auf den Paragraphen 129a des Strafgesetzbuches hatte die Bundesanwaltschaft in rund 40 Zentren der G8-Gipfelgegner Polizeirazzien durchgeführt und mehrere Personen, die verdächtigt wurden, »terroristische Anschläge« durchzuführen, verhaftet. Der Paragraph 129a wurde seit 1976, damals gegen die Rote Armee Fraktion konstruiert, als eine Allzweckwaffe des Staates gegen »terroristische Vereinigungen« benutzt. Währen früher diese Waffe gegen die Arbeiterbewegung, SozialistInnen und KommunistInnen benutzt wurde, waren dessen Zielgruppen später die RAF-SympathisantInnen, dann Hausbesetzer und schließlich KurdInnen und andere, als »Terroristen« verdächtige Personen. Wann immer der Staat einen inneren Feind, eine innere Gefahr benötigt, wird diese Waffe allzu gern herausgeholt.
Worum ging es? Jedes Jahr treffen sich die Regierungs- und Staatschefs der führenden kapitalistischen Länder an dem G8 Gipfel und debattieren über die wirtschaftlichen und politischen Probleme der Welt. Obwohl sie nur 13 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, gilt in den Fragen der Weltwirtschaft, Ressourcenverbrauch und »Sicherheit« nur ihr Wort. Das diesjährige Treffen findet am 6 8 Juni in Heiligendamm und Kanzlerin Merkel ist die Gastgeberin.
Weil nach jedem Gipfel die weltweite Armut immer größer, die Ausbeutung verfestigt, imperialistische Interventionskriege erweitert und die Umweltkatastrophe immer größer wurde, wird dieser Gipfel von Globalisierungsgegnern, Gewerkschafts- und Friedensbewegung zu recht kritisiert. Daher werden in und um Festung - Heiligendamm, zahlreiche Protestveranstaltungen durchgeführt. Die G8 Gipfelgegner wollen über die wahren Absichten der G8 Teilnehmerstaaten und Alternativen zu dieser Politik aufklären.
Der deutsche Staat hat mit den Razzien von Mittwoch versucht, berechtigte Proteste zu kriminalisieren und zu terrorisieren. Mit diesen Maßnahmen zeigte der Staat »Flagge« und Stärke. Dabei dient dieser Versuch für die Rechtfertigung neuer Verschärfungen und beabsichtigter Demokratieabbau. Dennoch kann behauptet werden, dass der Staat seinem Ziel, die Protestbewegung zu spalten nicht nahe kommen konnte. Die am Mittwochabend in 15 Städten durchgeführten spontanen Protestdemonstrationen belegen, dass die G8-Gegner noch fester zusammen geschweißt sind. Trotz der erwarteten Provokationen und möglichen gewalttätigen Auseinandersetzungen wird sich die Zahl der ProtestteilnehmerInnen wahrscheinlich erhöhen.
Diesmal habe ich mein Freund angerufen: »Nun Helmuth, was hatte ich gesagt?«. Er hatte auch an den spontanen Demonstrationen am Mittwochabend teilgenommen: »Sie wollen uns durch Kriminalisierung zum Schweigen bringen, aber das schaffen sie nicht. Eigentlich hatte ich nicht vor, nach Heiligendamm zu fahren. Aber jetzt bin ich fest entschlossen. Es steht außer Frage: nun sind wir alle Terroristen!«