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Murat Çakır

»Hungertod mit 20 Jahren!«

Speyer ist eine alte, historische deutsche Stadt. Der Speyer Dom, in dem sieben deutsche Kaiser und Könige begraben sind, ist die größte Kathedrale romanische Bauart. In ihrem mehr als zweitausendjährigen Geschichte hat die Stadt unzählige Tragödien erlebt, wurde angegriffen und niedergebrannt. In den Stadtarchiven sind sicherlich viele Namen von Speyerer BürgerInnen zu finden, die dem Hungertod erliegen sind.

Als ich vor einigen Tagen einen Bericht mit dem Titel »20 jähriger Speyerer verhungert« las, dachte ich zuerst an einen historischen Bericht. Doch, ich irrte. Tatsächlich war ein 20 jähriger Mann in einem reichsten Regionen der Welt verhungert. Im 21. Jahrhundert! Im Bericht wurde darauf hingewiesen, dass als Todesursache »Herzversagen durch Hunger« festgestellt wurde und man inzwischen von dem ersten offiziellen Toten durch Armut und Hartz IV sprach.

»Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« hatte der sozialdemokratische Arbeitsminister Franz Müntefering im Juni 2006 gemeint. Nun ist diese Aussage auf fatale Weise Wirklichkeit geworden. Man mag mir entgegnen: »Jeden Tag verhungern zehntausende Kinder in der Welt. Was macht es, wenn ein junger Mann in Deutschland verhungert?«, aber so einfach ist es nicht. Denn, der Hungertod eines Menschen in einem Land wie Deutschland belegt, was inzwischen der unsägliche neoliberal Umbau der Gesellschaft verursacht.

Schauen wir uns den Fall etwas näher an: ein 20-jähriger junger Mann, der offensichtlich psychologische Probleme hat, lebt mit seiner, ebenfalls arbeitslosen Mutter. Beide erhalten im Monat rund 621 Euro Hartz IV-Zahlung. Die Arbeitsagentur handelt im Rahmen der geltenden Gesetzgebung. Arbeitszwang und danach Streichung der Hilfen nach Oktober 2006. Mutter und Sohn werden ihrem Schicksal überlassen. Am Ende werden die Behörden von einem Nachbarn benachrichtigt und sie finden die abgemagerte Frau und den Leichnam des verhungerten Sohnes.

Nun, hätte die Mutter oder der Sohn durch Betteln oder Stehlen diese Tragödie verhindern können? Zweifelsohne, aber sie bettelten und stahlen nicht. Hätten sie nicht für 1 Euro pro Stunde arbeiten können? Sicherlich, aber vielleicht haben sie dies nicht mit ihrer Würde vereinbaren können. Vielleicht waren sie auch derart psychologisch Krank, dass sie die Konsequenzen ihrer Haltung nicht einschätzen konnten.

Weder das eine, noch das andere hat eine Bedeutung. Das einzige, was Bedeutsam ist, ist die Tatsache, dass ein reicher Staat durch Gesetze seine BürgerInnen in den Hungertod treibt. Dass dieser Staat, zugunsten der Kapitalverwertung die Lebens- und Arbeitsverhältnisse prekarisiert und dadurch die Armen in die Perspektivlosigkeit, Depressionen und zu einem Leben an der Hungergrenze drängt. Noch schlimmer jedoch ist es, dass die westlichen Gesellschaften, die aufgrund der sogenannten Terrorbedrohung verängstigt werden und sich in ihrem Wohlstand bedroht fühlen, in eine Situation gebracht sind, in der sie Zustände wie im tiefen Mittelalter einfach hinnehmen.

Auch wenn man den Hungertod des 20-jährigen Mannes als ein Einzelfall bezeichnen kann, so ist es aber zugleich eine symptomatische Erscheinung der Tatsache, wie barbarisch sich der Kapitalismus im 21.Jahrhundert verändert hat. Dieser »Einzelfall« ist im engen Zusammenhang mit der neoliberalen Umwälzung, der militaristischen Aggressionen und imperialen Gelüsten zu betrachten. Er ist der Beweis, dass die Armut durch Gesetz vertieft wird. Es ist keineswegs notwendig ein Linker oder gar ein Marxist zu sein, um diese Feststellung zu machen. Die Wissenschaft weist seit langem darauf hin – wie z.B. der Soziologe Prof. Dr. Michael Hartmann:

»Sollte es nicht gelingen, die augenblickliche Entwicklung zu stoppen, wird der Lebensweg von Kindern in Zukunft noch stärker als heute bereits bei der Geburt festgelegt. Wer in gut situierten Familien aufwächst, erhält eine gute Ausbildung und verfügt auch über die erforderlichen Persönlichkeitsmerkmale, um Karriere zu machen. Wer in einer armen Familie aufwächst. Bekommt nur eine unzureichende Ausbildung und wird als Erwachsener zu jenen gehören, die keinerlei Aussichten auf einen vernünftigen Job haben. Man könnte es plakativ so formulieren: Wer arm geboren wird, stirbt auch arm und umgekehrt.«

Kurzum, der Neoliberalismus diktiert: »Entweder wirst du für einen Niedriglohn und unter schlechten Bedingungen arbeiten, oder wirst, fern eines Lebens in Würde deinen Kindern nichts als Armut hinterlassen«.

War es nicht genau das, was Rosa Luxemburg, als sie vor mehr als 90 Jahren den Kapitalismus als Barbarei bezeichnete, sprach?

Am 21. April 2007 veröffentlicht in der Tageszeitung »Yeni Özgür Politika«

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