Es steht fest, dass die morgigen Wahlen, die nicht mehr verhindert werden können, einen Kurs eingeschlagen haben, in der die Zukunft der Türkei bestimmt wird. Es wäre aber ein fataler Fehler zu glauben, dass diese Wahlen die tiefe Krise des Landes lösen können. Alleine durch diese Wahlen kann die Krise nicht gelöst werden. Aber wenn diese Krise, zu einer Krise des militärischen Vormundschaftsregime umgewandelt werden könnte, könnten neue Chancen entstehen. Aus diesem Grund erwarte ich von den gewählten unabhängigen KandidatInnen, dass sie im Parlament alles erdenkliche tun, damit sich die Regimekrise vertieft. Das ist sicher eine hohe Erwartung. Warum ich diese hohe Erwartung artikuliere, will kurz ausführen.
Zu aller erst möchte ich in Erinnerung rufen, dass diese Wahlen unter den Bedingungen der antidemokratischen Verfassung von 1982 und in einer rassistisch - chauvinistischen und kriegsverherrlichenden Klima, das von den militaristischen Neojungtürken geschürt wurde, stattgefunden haben. Gleichzeitig darf auch nicht vergessen werden, dass die Herrschenden des militaristischen Vormundschaftsregimes stets das Parlament mit der, zwar unausgesprochenen aber immer zu spürenden »Putschgefahr« bedrohen. Die gespaltene, eigentlich als Türken und Kurden sich auseinander dividierende Gesellschaft der Türkei wird unter diesen Umständen wählen gehen.
Wer die, von Vernunft und Verstand verlassenen öffentlichen Diskussionen außeracht lässt und die nackten Umfrageergebnisse analysiert, wird feststellen, dass in dem neuen Parlament mit großer Wahrscheinlichkeit sieben Parteien, aber zwei Fronten vertreten sein werden. Es wird erwartet, dass die AKP die stärkste Partei wird. Es wird davon ausgegangen, dass die CHP und insbesondere die MHP sehr gute Ergebnisse einfahren werden. Wenn die unabhängigen KandidatInnen gewählt werden, werden zum ersten mal DTP, ÖDP und EMEP im Parlament vertreten sein. Dem ehemaligen Vorsitzenden der BBP, Muhsin Yazicioglu und dem früheren Premier Mesut Yilmaz werden auch gute Aussichten eingeräumt. Ich bin der Auffassung, dass die Wahlen, an den 14 Parteien und insgesamt 764 unabhängige KandidatInnen teilnehmen, ein solches Ergebnis bringen werden.
Natürlich könnte ein solches Ergebnis als »Parteien- und Meinungsvielfalt« bezeichnet werden. Aber in dieser Vielfalt werden zwei Fronten bestimmend sein: zum einen die gewerkschaftsnahen Kräfte des Friedens und der Demokratie und zum anderen, die Befürworter des Status quo. Wird ein so zusammengesetztes Parlament überhaupt die Kraft haben, die Gründe der tiefen Krise des Landes zu überwinden? Wohl kaum.
Belassen wir die lange Liste der Probleme um die Ägäis, Zypern, EU-Beitritt, Demokratisierung, Menschenrechte und Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Diskussionen um den Völkermord an den Armeniern, den Konflikt Aserbaidschan und Armenien, oder Irankonflikt u. ä. beiseite. Das Parlament wird schon in seiner ersten Sitzung je nach dem Grad der Äußerungen der Stabsführung paralysiert werden. Die Wahlen des Parlamentspräsidenten und des Staatspräsidenten werden die weiteren Konfliktfelder ausmachen. Und wenn dann auch noch eine grenzüberschreitende militärische Operation stattfinden sollte, wird dann offensichtlich, dass das Land nicht mehr wie früher regiert werden kann.
Natürlich können die Herrschenden mit irgendeiner Koalition - das kann sowohl eine AKP-MHP -, aber auch eine AKP-CHP-Koalition sein die Vertiefung der Krise für einen gewissen Zeitraum verhindern. Aber lösen werden sie es nicht können. Genau hier wird die Politik der »Unabhängigen« eine besondere Bedeutung bekommen. Ich kann mir vorstellen, dass einige Kreise der Vorstellung, dass die DTP Abgeordneten AKP unterstützen können nicht abwegig finden und sogar einige damit »die Teilhabe an der Macht« verbinden, Doch das ist ein Wunschtraum, der nicht in Erfüllung gehen wird. Die eigentliche Aufgabe der Unabhängigen ist nicht einen Beitrag für die Lösung der Krise zu beitragen, sondern die Krise des Regimes zu vertiefen. Nur so kann die Krise des Landes in eine Lösung zugetragen werden. Die in letzter Zeit öfters wiederholte Aussage »das auswendig gelernte vergessen machen« kann nur dann eine Bedeutung bekommen, wenn für eine Krise gesorgt wird, an dessen Ende die Demokratie den Platz des militärischen Vormundschaftsregimes nehmen wird. Wenn die Unabhängigen eine Politik entwickeln können, die beharrlich sich für Arbeit, Frieden und Demokratie einsetzt und ein breites gesellschaftliches Bündnis aufbauen hilft und diese fördert sowie ihre parlamentarische Arbeit transparent gestalten, dann werden sie die Möglichkeit erhalten, die Herrschenden in die Enge zu zwingen. Eben hier liegen die Chancen dieser Wahlen.