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Murat Çakır

»Endlösung«

Die Menschheitsgeschichte ist voller Tragödien. Einige dieser Tragödien beeinflussen nachhaltig die Zukunft der Völker und werden für die nachfolgenden Generationen zum Schandfleck der eigenen Geschichte. Es ist nicht nur das Handeln der Regierenden, welche die nachfolgenden Generationen beschämt, sondern vor allem die Untätigkeit, die unterstützende Haltung der Bevölkerung.

Eine solche Tragödie begann am 20. Januar 1942. Die berüchtigte Wannsee-Konferenz der Nationalsozialisten beschloss an diesem Tag die »Endlösung« der Judenfrage. Das Ergebnis ist bekannt: unzählige Kriegsopfer und Holocaust. 64 Jahre danach ist dieser Schmerz nicht erloschen. Im Gegenteil, auch die künftigen Generationen werden die Scham und den Schmerz aushalten müssen.

Diese historische Erfahrung in Deutschland sollte vor allem den Menschen in der Türkei stets ein aufrüttelndes »Alarmsignal« sein. Denn in diesem Land, dessen Gründung schon unter keinem guten Stern stand und dessen Fundament von zahlreichen blutigen Auseinandersetzungen besudelt wurde, wird jeder Schritt, mit der das friedliche Zusammenleben sabotiert wird, für die Zukunft eine unsägliche Hypothek bedeuten.

Die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass das Land einen tragischen Weg eingeschlagen hat. Natürlich ist das kein Ergebnis der letzten Tage, sondern die logische Konsequenz der seit mehr als achtzig Jahren fortgeführten Politik der Ausgrenzung, Unterdrückung und Verweigerung. Die Ereignisse der letzten Tage machen aber jetzt deutlich, dass die Entscheidungsträger in der Türkei sich entschlossen haben, das grundlegende Problem des Landes endgültig (!) zu lösen. Denn anders ist es nicht zu erklären, dass ein Premier, der die Tötung von Kleinkindern durch Sicherheitskräfte billigt, gar öffentlich bekannt gibt, dass »man hart durchgreifen« werde, »selbst wenn die Aufbegehrenden Frauen und Kinder« seien, immer noch im Amt bleiben kann.

Im Interesse einer imperialistischen Politik scheinen die Regierung und die militaristische Clique, die die eigentliche Macht in den Händen hält, gewillt zu sein, bewusst die Situation eskalieren zu lassen. Dafür werden Verschärfungen zur Aufhebung der vorhandenen –wenn auch defizitären- demokratischen Rechte auf den Weg gebracht, Schritte zur Unterordnung der Wirtschaft unter die Dominanz der internationalen Finanzmärkte vollzogen und die Basis für die mögliche Teilnahme an Interventionskriegen in der Region vorbereitet.

All das sind Belege dafür, dass die herrschenden Kräfte in der Türkei das Land zu einer Bastion des Neoliberalismus, Militarismus und aggressiven Chauvinismus umbauen wollen. Hierin liegt der eigentliche Grund für ihre Entscheidung. Doch es ist eine Entscheidung, die sie gemeinsam mit ihren imperialistischen Partnern gefällt haben. Menschenrechte, Demokratie und die Kurdenproblematik interessiert weder Kerneuropa noch die US-Administration. Es zählen einzig geostrategische, wirtschaftliche und politische Interessen. Wie könnte man sonst das Schweigen der demokratischen (!) Regierungen Westeuropas erklären? Wo sind die Bedenkenträger, die ja bei jeder Gelegenheit die »Unreife« der Türkei für den EU-Beitritt reklamieren? Warum schweigt Frau Merkel und die ach so liberale westeuropäische Presse, die zu Recht die Inhaftierung eines zum Christentum konvertierten Afghanen skandalisierte, zu Ermordung von Zivilisten? Wo ist die internationale Staatengemeinschaft, die stets zur Ächtung von ABC-Waffen aufruft, wenn die türkische Armee chemische Kampfmittel einsetzt?

Kerneuropa schweigt. Sie werden weiterhin schweigen, weil die neuen Interessen in dem Dreieck Kaukasus-Naher Osten-Balkan für die Türkei eine Rolle als »stabilisierender Faktor« vorsieht. Das ist eine beunruhigende Entwicklung.

Aus gesellschaftspolitischer Sicht ist aber die Situation der Nicht-KurdInnen in der Türkei noch beunruhigender: die Gleichgültigkeit derer, die der Ermordung von Kindern durch Polizeikräfte quasi regungslos zusehen und das Verhalten der bürgerlichen Medien, die mit ihrem Skandaljournalismus in der Türkei bewusst rassistisch-chauvinistische Stimmung anheizen.

Herrschende Kräfte und Staatsführungen können Torheiten begehen. In die Annalen der Geschichte werden sie dafür als Schuldige eingehen. Aber auch die zivilisatorischen Kräfte, die dem Treiben ihrer Regierungen tatenlos zusehen oder unterstützend wirken. Daher stehen diejenigen Menschen, die es vermeiden wollen, dass die Gegenwart in der Zukunft zu einer verhassten und belastenden Vergangenheit wird, vor der Aufgabe jetzt »Nein!« zu sagen: »Nein! Wir heißen das, was ihr da tut, nicht gut, hört auf«. Es ist die Aufgabe, das was dem »Anderen« angetan wird, als etwas zu verstehen, was einem selbst angetan wird und sich für eine friedliche Zukunft in Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit einzusetzen. Um gegen das, was in der heutigen Türkei den KurdInnen widerfährt, zu protestieren, muss man kein Linker oder Revolutionär sein. Gegen diese Unterdrückung aufzubegehren ist die Grundvoraussetzung, um sagen zu können: »Ich bin ein Mensch und will in Würde leben«. Ohne diese Grundvoraussetzung zu erfüllen, wird es nicht möglich sein, weder für politische noch für wirtschaftliche Probleme des Landes Lösungen zu entwickeln.

Auf der anderen Seite aber können Repressalien und unterdrückende Maßnahmen des Staates mitnichten die Gegengewalt, Bombenattentate auf Wohnviertel und gewaltsame Aktionen, die wie in Istanbul geschehen, zum Tode von Unschuldigen führen, rechtfertigen. Gegen Chauvinismus und Lynchjustiz mit ähnlichen Mitteln vorzugehen, kann mit nichts begründet werden. Zwischen den Toten, die durch Polizeikugeln ums Leben kamen und denen, die infolge eines Molotowcoctails sterben mussten, gibt es keinen Unterschied. Wer den Tod des einen beklagt, aber den Tod des anderen verschweigt, macht sich mitschuldig.

Ziviler Ungehorsam ist eine legitime Aktion. Nicht nur das; ziviler Ungehorsam ist ein wirksames Mittel der Bevölkerung, mit dessen Hilfe sie die Regierungen zur Ordnung rufen und die angeborene Unzulänglichkeit der sozialen Institutionen zu Korrektur nötigen kann. Aber ziviler Ungehorsam hat eine einzige Bedingung: Gewaltlosigkeit – um jeden Preis!

Auch wenn eine Aktion nicht auf das Leben von Menschen ausgerichtet ist, so nimmt sie durch die Anwendung von Gewalt billigend in Kauf, dass Menschen ihr Leben verlieren. Solche Aktionen verlassen die Grenzen des zivilen Ungehorsams und machen das Recht zu einem Unrecht. Abgesehen davon, dient jede auf Eskalation ausgerichtete Aktion nur denen, die aus dieser Eskalation einen Nutzen ziehen wollen.

Aus diesem Grunde steht jedes einzelne Individuum, jede Organisation der Republik Türkei vor der historischen Verantwortung, zur Deeskalation beizutragen. Gegen Gewalt, Chauvinismus und aller Art Nationalismen, antidemokratische und neoliberale Gesetze, gegen Militarismus und Vernichtungspolitik und für Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden und Völkerfreundschaft zu kämpfen, ist das Gebot der Stunde. Ohne zu vergessen, dass die eigene Befreiung, die Befreiung des anderen bedeutet und dass die Grenze nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Oben und Unten verläuft.

Am 4. April 2006 veröffentlicht in der Tageszeitung »Yeni Özgür Politika«

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