Es war das Jahr 1983, als sich Günter Wallraff entschied, die Arbeits- und Lebensverhältnisse der »Gastarbeiter« am eigenen Leibe zu erfahren. Sein Buch »Ganz unten« schien die Mehrheitsgesellschaft aufgerüttelt zu haben. Die Medien sprachen von »skandalösen Zuständen« unter denen die »Gastarbeiter« gehalten wurden und mahnten ein generelles Umdenken im Bezug auf die Behandlung »unserer Gäste«.
Nun, knapp ein Vierteljahrhundert danach hat sich doch etwas geändert, wird man sagen. Doch mitten in Europa, dem Hort der Aufklärung, des Wohlstandes und westlicher Demokratien verbessert sich nur die Situation der Privilegierten und Besserverdiener. Wer auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie steht, hat kaum Möglichkeiten sich daraus zu befreien. Diejenigen, die ganz unten stehen, dienen für die Stigmatisierung als Sündenböcke oder als Bedrohungspotenzial für das Schüren der Ängste der gesellschaftlichen Mitte. Bereit, weil ihnen nichts anderes bleibt, für einen Hungerlohn und unter schlechtesten Bedingungen ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sind sie zudem willkommene Objekte für den Frontalangriff des Neoliberalismus auf das Statut der Lohnarbeit. Ganz unten, im MigrantInnendasein, offenbart sich so das hässliche Gesicht des globalisierten Finanzmarktkapitalismus.
Prekär leben? Doch nichts Neues
Gerne wird in der Debatte über die »Prekarisierung« der Zusammenhang zur Migration hervorgehoben. Als krasses Beispiel der Verelendung weist man zu recht auf die Arbeits- und Lebenssituation der Illegalisierten, Sexarbeiterinnen oder Haushaltsgehilfinnen hin. Auf der anderen Seite unterstreicht die libertäre Kritik des Fordismus die »positiven Eigenschaften« der »Prekarisierung«, in der z.B. illegalisierte Migrantinnen den Sprung in das Arbeitsleben schaffen zwar im Niedriglohnsektor, die sie aber nicht als »prekär« empfänden, da sie ja Schlimmeres gewohnt seien.
So konstruiert wird die »Autonomie der Migration« zu einer Strategie gegen die nationalen Begrenzungen und Grenzen sozialer Rechte erkoren und MigrantInnen zu autonomen Akteuren der »Prekarisierung« glorifiziert. Dabei ist die Migration, »eine sich stets wiederholende, lange Geschichte« (I. Wallerstein), immer eine Überlebensstrategie der »verächtlichten, erniedrigten, unterdrückten und versklavten« Individuen. Nichts Neues also. Oder ist das Neue daran, dass »flexible, nomadische, migrantische und hybride Subjekte das Leitbild des sesshaften Arbeiter-Bürgers ablösen« (S. Karakayali) werden? Ist die »Prekarisierung« tatsächlich als eine Chance zu begreifen, die emanzipiert und ökonomische Selbständigkeit ermöglicht, obwohl es immer einhergeht mit der Entrechtung und Unterwerfung?
Ich bin der Auffassung, dass zuerst der Frage, wie die »Prekarisierung« in soziologisch-kultureller, wirtschaftlicher, historischer, politischer und juristischer Hinsicht zu definieren ist, nachgegangen werden sollte. Sicherlich wird die Antwort darauf keineswegs eindeutig ausfallen. Zumal die Schwierigkeit der Begriffsbestimmung darin besteht, dass der Prekarisierungsdiskurs einen Versuch darstellt, die alten (aber noch immer relevanten) Herrschaftsverhältnisse in einen postmodernen Begriff des »Prekariats« hineinzuinterpretieren. Auffallend ist dabei, dass die erstrebenswerten Strategien stets als individualistisch verstanden werden. Quasi als Individualisierung der sozialen Verhältnisse.
Zudem sprechen gehässige Mäuler davon, dass der gegenwärtige Prekarisierungsdiskurs im Grunde eine eurozentristische Sichtweise sei. Das ist harter Tobak, aber nicht von der Hand zu weisen. Denn der Rest der Welt hat unter der Herrschaft des Westens die Ausbeutung und damit die Prekarisierungsprozesse schon immer erfahren. Ein Pendant zu diesem Diskurs stellt die Debatte über die Zivilisation und Barbarei des Westens dar. Erst mit dem Holocaust wurde man in Europa darauf aufmerksam, dass die europäische Moderne auch barbarisch sein könne. Dabei hat Europa bis heute die Verantwortung für eines ihrer größten Verbrechen an der Menschheit, der Quasivernichtung der UreinwohnerInnen des amerikanischen Kontinents noch immer nicht übernommen.
So gesehen kann behauptet werden, dass der europäische Prekarisierungsdiskurs mit dem Bruch des privilegierten Status der westlichen Gesellschaften begonnen hat. Anders gesagt: Erst mit der kollektiven Wahrnehmung begann das Trauma der Mehrheitsgesellschaften. Besonders in der Berliner Republik muss dies im engen Zusammenhang mit der Transformation des rheinischen Kapitalismus gesehen werden. Die Antastung der Privilegien des weißen Normalbürgers machte die verfestigten Ungleichheiten und die Klassengesellschaft für alle sichtbar.
»Und dann wird jeder Bürger zum Ausländer im eigenen Land«
Das bringt uns zum Thema der gesellschaftlichen Hierarchien. Grundannahme der Debatte ist, dass unterschiedliche Bevölkerungsteile von den Prekarisierungsprozessen betroffen sind. Das ist zwar richtig, doch bei näherem Hinsehen werden gravierende Unterschiede deutlich. Zwei Wesentliche sollten hier erwähnt werden.
Erstens; die Flexibilisierung im Arbeitsleben der Qualifizierten ist eine Veränderung von Arbeitsstrukturen, was jedoch mit der eigentlichen Bedeutung der »Prekarisierung« wenig zu tun hat. Vielmehr wird die monotone und sichere Beschäftigungsart durch einen abwechselnden Lebenslauf ersetzt. Unsicher, aber mit weißen Privilegien und Vorrechten auf dem Arbeitsmarkt. Daher sehen Gutausgebildete in der »Prekarisierung« durchaus »Momente erweiterter Selbstbestimmung« und erliegen der Vorstellung, als »eigenverantwortlich handelnde und unternehmerisch denkende, selbständige Individuen« ihre Arbeitsbedingungen einzeln aushandeln zu können. Diese Sichtweise vernachlässigt jedoch die Tatsache, dass Individualrechte nur dann fundamentiert werden können, wenn Kollektivrechte gewährleistet sind. Die Befreiung des Einzelnen war immer ein Werk kollektiver, gesellschaftlicher Kämpfe und nicht umgekehrt.
Zweitens müssen die Spannungen zwischen den weißen und nichtweißen Unterschichten benannt werden. Die neoliberale Strategie der Verunsicherung und der massive Umbau der sozialen Sicherungssysteme führt zwar zu einer Nivellierung der Konkurrenzbedingungen zwischen diesen beiden Unterschichten, doch die vorhandenen Privilegien der weißen Unterschicht verhindern eine Gleichstellung. Aufgrund der Ethnisierung der arbeitsmarktrechtlichen Instrumente haben weiße Unterschichten gegenüber MigrantInnen nicht zu unterschätzende Vorrechte. Das heißt natürlich nicht, dass Armut und Elend für Weiße ein Fremdbegriff ist, aber institutionelle und gesellschaftliche Diskriminierungsfelder sowie die Rechtsunsicherheit, den Aufenthaltsstatus jederzeit verlieren zu können, potenzieren die »Prekarisierung« der nichtweißen Unterschichten.
MigrantInnen, Flüchtlinge und Illegalisierte waren immer die Unterprivilegierten in unserer Gesellschaft. Erst als die gesamte Gesellschaft ihnen gleichgestellt werden sollte, wurde davon Kenntnis genommen. Um es mit Heribert Prantl zu sagen: erst als alle Deutsche im eigenen Land Ausländer werden sollten, wurde die »Prekarisierung« zu einem echten Problem.
Nichtsdestotrotz gilt: Die Verunsicherung erfasst weite Teile der Gesellschaft und vertieft dessen Spaltung. Die unter dem Druck der Finanzmärkte erzwungene Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, die Erosion sozialstaatlicher Regulationen und die voranschreitende Entkopplung von Arbeit und sozialer Sicherheit führen dazu, dass nicht nur die Unterschichten, sondern auch die Mehrheit der abhängig Beschäftigten in eine Angststarre versetzt werden. So wird die »Prekarisierung« zu einem Herrschaftsinstrument des Neoliberalismus gegen alle.
Angesichts dieser Tatsache kann die Alternative dieser Entwicklung nicht die alleinige Fokussierung auf individualistische Strategien sein. Vielmehr ist es notwendig, eine Politik zu entwickeln, die aus der Perspektive der Schwächsten der Gesellschaft ausgehend auf die Neuerfindung der Sozialstaatlichkeit zielt und unter Berücksichtigung der veränderten Geschlechterrollen, Lebensläufe und emanzipatorischen Erwartungen die Koppelung von Arbeit und sozialer Sicherung auf einer neuen Basis umgestaltet. Der Einsatz dafür im Hier und Jetzt wird dann auch die beste Grundlage für die Forderung nach globalen sozialen Rechten sein, die fest mit dem Kampf um eine andere Welt verbunden sind.
Notwendig dafür sind breite gesellschaftliche Bündnisse und die Wiederaneignung der politischen Gestaltungsfähigkeit. Es ist, wie Joachim Bischoff schreibt, »die Herausforderung für Gewerkschaften, globalisierungskritische Bewegungen und die politische Linke, (...) gegen den nationalen und internationalen Umbau durch die neoliberalen Eliten das Protestpotential zu bündeln. Wir werden diese Aufgabe nur lösen können, wenn wir uns die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche der Wiederentdeckung der Klassengesellschaft klar machen«.