Aus den bitteren Erfahrungen des gescheiterten Staatssozialismus in der Sowjetunion und seinen osteuropäischen Staaten, einschließlich der DDR, lautete eine wichtige Erkenntnis der aus der SED hervor gegangenen PDS, der heutigen Linkspartei, dass eine soziale Umwälzung, eine Revolution nicht von einer zumeist selbst ernannten Avantgarde zu Stande kommt, die sich obendrein auch noch wähnt, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Eine Überwindung dieser kapitalistischen Verhältnisse kann und muss in einer Demokratie enden und auf demokratischem Weg erfolgen, mit dem Risiko, auf demokratischem Weg auch wieder abgewählt zu werden. Dann waren die Vorschläge der Sozialistinnen und Sozialisten eben nicht gut genug. Die Überwindung setzt zweitens einen über viele Jahre währenden Prozess der Aneignung von Wissen und Erfahrungen aus den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen voraus. (...)
Heute über die Alternativen jenseits des real existierenden Kapitalismus mit seinen entbändigten Märkten zu reden, mutet als völlig abwegig an, weil es uns nicht einmal gelingt, den Sozialstaatskompromiss, der noch unter Helmut Kohl weitgehend galt, gegen das Vordringen des Neoliberalismus zu verteidigen. Mit der einzigen Ausnahme der Linksfraktion haben die übrigen Parteien die neoliberalen Postulate nach mehr Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung adaptiert, die Union und die FDP am radikalsten, die Grünen in dem Bemühen, zum herrschenden Zeitgeist aufzuschließen, die SPD zumindest mit einer mittleren Variante. (…)
Der Weg für Veränderungen ist schwerer geworden
Der Weg für Veränderungen ist ungleich schwerer als noch in den Zeiten des so genannten sozialdemokratischen Zeitalters der Nachkriegsära. Das hängt sowohl mit der Globalisierung als auch mit der Vorherrschaft des Neoliberalismus zusammen.
Ich will dafür ein Beispiel nennen. Die Energieversorgung wurde privatisiert. Wäre sie im staatlichen Eigentum verblieben, hätte der Staat mehr Einnahmen, die nun privat angeeignet werden. Noch wichtiger wäre, dass wir im Bundestag Druck machen könnten auf eine stärkere Förderung von erneuerbaren Energien. Dazu hätte man auch staatliche Investitionen bereitstellen können. Man hätte auch Einfluss auf die Preisgestaltung nehmen können, beispielsweise in der Weise, dass Rentner mit einer minimalen Grundrente oder Hartz-IV-Bezieher Sondertarife erhalten.
Stattdessen muss erst die Auseinandersetzung um die Gestaltungsmöglichkeit geführt werden. Also eine Auseinandersetzung, dass die Energieversorgung wieder vergesellschaftet wird, was sie ja über Jahrzehnte war. (…)
Öffentliche Güter wie die Energie, die Wasserversorgung und -entsorgung, der öffentliche Nah- und Fernverkehr, ein Teil der Wohnungen, die medizinische Versorgung, ein beträchtlicher Teil der Kultureinrichtungen, Schulen, Hochschulen und Bildung, sind entweder vor einer Privatisierung zu bewahren, oder wieder zu vergesellschaften. Es handelt sich um eine Wiederaneignung öffentlicher Güter oder Güter der öffentlichen Daseinsvorsorge, die für alle Bürgerinnen und Bürger chancengleich zugänglich sein und bereitgestellt werden müssen.
Privatisierung findet nicht nur bei vormals öffentlichen Unternehmen und Einrichtungen statt. Zunehmend werden auch die Risiken des Lebens bei der Gesundheit, beim Alter, bei der Pflege privatisiert. Bei der Gesundheit durch Zuzahlungen, die Praxisgebühr und die Zusatzversicherung bei Zahnersatz und Krankenhausaufenthalt. Bei den Renten über die Riester-Rente und dadurch, dass landauf, landab gesagt wird, die Renten seien nicht mehr so sicher, also versichert Euch zusätzlich privat.
Aus der Sicht der Neoliberalen ist die Unsicherheit bei den Menschen eine hervorragend funktionierende Politik. Sie führt nämlich zur Entsolidarisierung oder lässt Solidarität gar nicht erst aufkommen. Dieser weiteren Privatisierung der Lebensrisiken können Linke nicht zustimmen, sondern müssen für den Erhalt und den Ausbau solidarischer Sozialversicherungssysteme kämpfen. Ebenso müssen wir im Bereich der erfolgten Deregulierungen der Finanzmärkte wieder re-regulieren, die rein spekulativen Hedge-Fonds wieder verbieten, das Ausschlachten von Unternehmen durch Private-Equity-Fonds durch steuerliche Sanktionen verhindern, Veräußerungsgewinne der Kapitalgesellschaften wieder besteuern.
All diese Forderungen haben mit einer Transformation dieser Gesellschaft erst einmal nichts zu tun. Damit erreichen wir bestenfalls ein Niveau an Regulierung und die Wiedereinbettung der Marktwirtschaft in die Gesellschaft wie in den siebziger oder achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Es handelt sich eigentlich um sozialdemokratische, nicht um sozialistische Politik, die die Linke einfordern muss, weil sich die SPD entsozialdemokratisiert hat. Aber diese Schritte sind notwendig, um überhaupt wieder politische und gesellschaftliche Gestaltungsmacht gegenüber den Kräften des Marktes zurück zu gewinnen. Denn erst unter den dann gegebenen Bedingungen lassen sich weitere Formen der Vergesellschaftung, der aktiven Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an den wirtschaftlichen Prozessen und ihrer Entwicklungsrichtung vorantreiben, die über das rein sozialdemokratische Projekt hinausweisen. Nur so erreicht man wieder ein Primat der Politik über die Wirtschaft und damit eine wesentlich stärkere Relevanz von Demokratie.
Genau diese Politik und diese Forderungen sind der Kritik der Neoliberalen, der Parteien, die sich dem Neoliberalismus verschrieben haben und des Mainstreams der Medien ausgesetzt. Sie werfen uns eine im Grunde genommen konservative Politik vor, weil wir zurück in keynesianische Zeiten wollten. Ja, das wollen wir auch, weil sie für die gesellschaftliche Teilhabe der Menschen, für die bewusste Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklungen eine Voraussetzung ist. Nicht konservativ, aber asozial sind die Neoliberalen, die ihre Politik als besonders modern anpreisen, in Wirklichkeit nur die Apologeten eines ungezügelten Marktes sind und dabei schon fast religiöse Züge annehmen. Ich jedenfalls erkenne keinen Fortschritt daran, wenn unter der Dominanz des Marktes und seiner Gesetze der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft zerstört wird.
Ein Wandel ist meist nur im EU-Rahmen möglich
Ein weiteres Problem, das sich für die Linke stellt, ist die partielle Aufgabe oder Übertragung vormals nationaler Souveränitätsrechte an supranationale Institutionen wie die Welthandelsorganisation WTO oder, naheliegender, den Institutionen der EU. (…) Eine bewusste Inkaufnahme einer staatlichen Neuverschuldung zur Belebung der Wirtschaft, etwa durch das Auflegen eines Investitionsprogramms, ist nur in einem sehr begrenzten Rahmen möglich. Ich will das an dieser Stelle nicht vertiefen, aber die Notwendigkeit unterstreichen, dass viele politische Veränderungen nur im Rahmen der EU erreicht werden können.
Die Auseinandersetzungen um die EU-Dienstleistungsrichtlinie, die es Dienstleisterinnen und Dienstleistern erlauben sollte, innerhalb der EU zu den Bedingungen ihrer Herkunftsländer zu arbeiten, konnte weitgehend dank der Proteste der Gewerkschaften verhindert werden. Das ist ein Hinweis für die Notwendigkeit, in der EU zu gemeinsamen möglichst hohen sozialen Mindeststandards und ökologischen Standards zu kommen, die nicht unterlaufen werden dürfen.
Das gilt auch für die Harmonisierung der Unternehmenssteuern, um Kapitalflucht zu verhindern. Hier müssen wir also den nationalstaatlichen Handlungsrahmen mit einer Strategie der Zusammenarbeit mit anderen linken Kräften in der EU, außerparlamentarisch wie parlamentarisch erweitern, weil wir allein auf nationalstaatlicher Ebene scheitern würden. Daher messe ich dem Kampf für eine neue Verfassung, für ein sozial gestaltetes Europa, das sich im Übrigen auch von einer Militarisierung der Außenpolitik verabschieden sollte, eine zentrale Bedeutung zu.
Wie halten wir es mit den Märkten? Ich glaube nicht, dass sich Märkte abschaffen lassen. Und wir sollten es auch nicht tun, da Märkte sich als äußerst effizient erwiesen haben. Überall wo Geld als Steuerungsmedium ausfällt, bedarf es anderer Steuerungsmedien oder direkter Koordination. Eine marktfreie Gesellschaft stünde dann vor der Alternative, die Bedeutung des Staates in der Ökonomie massiv aufzuwerten oder alle möglichen ökonomischen Prozesse im Rahmen der freien Kooperation stattfinden zu lassen. Da freie Kooperationen ausschließlich durch die Moral der Kooperierenden stabilisierbar sind, besteht hier die Gefahr der moralischen Entlastung durch staatlich-bürokratische Handlungskoordination. Man muss ja nicht den Teufel an die Wand malen, um zu sehen, dass hier Gefahren lauern, die man bestimmt nicht mit einer Idee der Marktaufhebung beabsichtigt: nämlich die Kolonisierung der Lebenswelt statt durch Marktimperative nun durch bürokratische Imperative. Eine solche Wirtschaft endet wie im Staatssozialismus als unproduktive Mangelwirtschaft. Sie begünstigt auch einen großen Mangel an Freiheiten und Demokratie, weil Mechanismen zum Interessenausgleich entbehrlich erscheinen.
Eine andere Frage ist, wie viel Markt wir brauchen, wie viel staatlich gesteuerte Ökonomie, wie viel wir auch freier Kooperation zutrauen. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass der gegenwärtige Zustand des Kapitalismus, der sich dadurch auszeichnet, dass Märkte sowohl institutionell als auch territorial völlig entgrenzt sind, überwunden werden muss. Ein Zustand muss hergestellt werden können, in dem die Gesellschaften selbstbestimmt ihre Ökonomie wieder steuern könnten. Dann wäre es auch möglich, sowohl soziale Ziele wie Gerechtigkeit als auch ökologische Ziele ins ökonomische System einzuspeisen. Notwendig dafür ist eine Rahmenplanung zur Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Ziele.
Faire Marktwirtschaft jenseits der Schlüsselbereiche
Eine Gesellschaft benötigt meiner Auffassung nach alle notwendigen Machtmittel, um ökonomische Prozesse so steuern zu können, dass Kapitaleffektivität und Produktivität, also dasjenige, was als richtig angesehen wird, konvergieren. Das wird aber nur gehen, wenn Preise gesellschaftlich kontrolliert werden können. Ebenso könnte über eine Rahmensteuerung die gesellschaftliche Verteilung von Gütern nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten geregelt werden. Schließlich ist die gerechte Verteilung der Arbeit Gegenstand einer gesellschaftlichen Rahmenplanung. Anders ausgedrückt: Außerhalb der Schlüsselbereiche und öffentlichen Daseinsvorsorge ist eine faire, chancengleiche Marktwirtschaft wichtig, weil sie zu große private wirtschaftliche Macht verhindert, Effektivität und Produktivität fördert, Qualität steigert und Preise senkt.
Ich möchte ein zweites brisantes und umstrittenes Problem in der Linken aufgreifen, die Eigentumsfrage. Orthodoxe Marxistinnen und Marxisten gingen und gehen davon aus, mit der Enteignung der Eigentümerinnen und Eigentümer wären alle Fragen im Kern beantwortet, damit wäre die Machtfrage gelöst. Das Problem ist jedoch wesentlich komplizierter. Nehmen wir nur die riesigen US-Pensionsfonds. Anteilseigner sind die Beschäftigten in amerikanischen Unternehmen, die privat für ihre Alterssicherung aufkommen müssen. Sie sind selbst an möglichst hohen Renditen interessiert.
Die Verwalter dieser Fonds, die Finanzmakler und Analysten, spekulieren mit einem Teil dieser Rentenfonds, beteiligen sich auch an Hedge-Fonds, die auf der Jagd nach immer höheren Renditen im Zweifel sogar die Unternehmen ausschlachten, zerstückeln und Beschäftigte entlassen. Aus kurzfristigen Renditeinteressen werden also im Zweifelsfall die Existenzen von Unternehmen aufs Spiel gesetzt.
Das Problem ist dabei nicht die Eigentumsfrage, sondern die Frage der gesellschaftlichen Kontrolle und Teilhabe der Anteilseigner an den Rentenfonds, die sich gewiefter Fondsmanager bedienen und die Fonds für spekulative Transaktionen missbrauchen. Es geht also nicht einfach um Macht und Eigentum, sondern um die Inhalte von Macht und Eigentum.
In unserem Grundgesetz ist das Eigentum an das Gemeinwohl gebunden. Daran ließe sich anknüpfen. Eigentümerinnen- und Eigentümerinteressen müssten verpflichtet werden, sich an sozialen und ökologischen Standards zu orientieren. Dabei sollten die abhängig Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen ein gewichtiges Wörtchen mitreden mehr als es die heutige Mitbestimmung ermöglicht. Trotzdem: Staatliches, kommunales und genossenschaftliches Eigentum bleiben in Schlüsselbereichen und in der öffentlichen Daseinsvorsorge wichtig, auch um sozial und ökologisch regulieren zu können und ein Primat der Politik und damit der Demokratie zu sichern.
Nun bleibt die Frage, ob ich hier einen Sozialismus skizziert habe. Innerhalb des so genannten »Analytischen Marxismus« nannten sich einige »Marktsozialisten«. So etwas in der Art diskutierte man auch dort. Dann gibt es die Theoretiker der Wirtschaftsdemokratie. Auch hier sehe ich Berührungspunkte. Aber ich würde vorschlagen, etwas weniger vollmundig einfach nur von einer Marktwirtschaft zu sprechen, die ihr Prädikat »sozial« wirklich einmal verdient hätte. Aber was hat das dann mit Sozialismus zu tun?
Der Kapitalismus kam nicht zu Stande, weil die Leute beschlossen hatten, dass sie Kapitalismus machten. Man kann entgegen früheren Hoffnungen nicht einfach etwas anderes beschließen, zumindest wird es das dadurch noch nicht.
Ich hoffe, dass es unseren Gesellschaften gelingt, im Rahmen sozialer Lernprozesse sich so zu verändern, dass die emanzipativen Errungenschaften der bürgerlichen Ära bewahrt und ihre desaströsen Momente überwunden werden können. Das entspricht wohl ungefähr dem, was Marx sich unter einer sozialistischen Gesellschaft vorgestellt hat.
Hoffnung heißt aber nicht, dass es im Hier und Jetzt nichts zu tun gibt. Letztlich geschieht nur das, was die Menschen zulassen, dass es geschieht. Überall dort, wo wir Macht und Einfluss haben, etwas zu verändern, müssen wir auch den Mut haben, das zu tun, wir müssen aber auch genügend Vorsicht walten lassen, damit die Richtung der Veränderung entweder stimmt oder zumindest schnell korrigierbar ist.
Unsere zukünftigen Alternativen jenseits dieser bestehenden Gesellschaftsordnung ist um Friedrich Engels zu zitieren »nicht etwa aus dem Kopfe zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken«. Ich hoffe nur, dass uns angesichts der Zuspitzungen der sozialen, ökologischen und kriegerischen Herausforderungen noch genügend Zeit bleiben wird.