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Christoph Lieber

Politischer Quantensprung?
Was ist neu an der neuen Linken?

WASG und Linkspartei.PDS werden sich als Parteien auflösen und damit die letzte Hürde auf dem Weg zur parteipolitischen Neugründung einer Linken in Deutschland jenseits der Sozialdemokratie beiseite räumen. Im Sommer 2007 findet dann der gemeinsame Gründungsparteitag für "Die Linke." statt.

Das politische und ökonomische Umfeld, in dem dieser auch für die Linke in anderen europäischen Ländern nicht unbedeutende Schritt vollzogen wird, hat sich gegenüber den Ausgangskonstellationen erheblich verändert. Das betrifft zum einen die Großwetterlage:

- Die Veränderungen in den Kräfteverhältnissen in den USA durch die Mehrheiten der Demokratischen Partei in beiden Häusern des Kongresses werden sich auf die internationale Hegemonie des Neoliberalismus auswirken; er wird brüchiger werden. Das bedeutet zwar kein sofortiges Ende der Kriegspolitik der Bush-Administration, aber sie wird innen- wie außenpolitisch weiter unter Druck geraten. Auch erste Anzeichen einer Akzentverschiebung in den Verteilungsverhältnissen durch die Initiative zur Anhebung des Mindestlohns auf 7,25 Dollar sind in ihren politischen Auswirkungen nicht zu unterschätzen. Dazu kommt, dass nach wie vor eine moderate Ausgleichung der Disproportionen in der US-Ökonomie im laufenden Konjunkturzyklus nicht auszuschließen ist.

- Auch hierzulande unterscheiden sich die politischen Schlagzeilen von denen im Endstadium von Rot-Grün: anhaltender konjunktureller Aufschwung, eine Million neuer Arbeitsplätze, sinkende Arbeitslosenzahlen, erste Lohnabschlüsse um die 3%, Diskussionen zu gesetzlichen Mindestlöhnen und über die eventuelle Notwendigkeit einer Rückkehr zur Regulierung der Finanzmärkte. Das alles bedeutet noch keineswegs das Ende des neoliberalen Umbaus des Kapitalismus hierzulande und anderswo. Aber Teile der politischen Klasse, im konservativen christdemokratischen wie im sozialdemokratischen Lager, zeigen sich durch das Wählervotum vom Herbst 2005, das sowohl dem neoliberalen Durchmarsch von CDU/FDP als auch der sozial abgefederten Politik eines "aktivierenden Staates" von Rot-Grün keine Mehrheit beschied, im Nachhinein doch beeindruckt und nehmen Kurskorrekturen vor. Es sind gerade die Folgewirkungen ihrer neoliberalen Politik, die die strukturellen Fehlentwicklungen des Finanzmarktkapitalismus nicht löst, die das bürgerliche wie sozialdemokratische Lager jetzt einholen: Eigene Repräsentanten in der CDU wie Rüttgers, von Beust u.a., aber auch im Unternehmerlager, sprechen beschämende Tatbestände der Zerrüttung des Gemeinwesens wie zum Beispiel durch Hungerlöhne des Reinigungspersonals in Nobelhotels aus und ahnen dabei das Gefährdungspotenzial für bürgerliche Hegemoniefähigkeit. Und auch Akteuren in der SPD dämmern die Auswirkungen anhaltenden Vertrauensverlustes durch ihre Politik der Hartz-Gesetze, die mehr oder weniger allesamt als untauglich für neu-sozialdemokratische "Aktivierungspolitik" evaluiert wurden. Mit ihrem Plädoyer für eine Mindestlohnpolitik, wie rhetorisch aufgesetzt auch immer, reagiert die Sozialdemokratie auf die sich verfestigende strukturelle Benachteiligung der Arbeitseinkommen in den Verteilungsverhältnissen und versucht untere Haltelinien einzuziehen, um die strategische Unsicherheit der für sie nach wie vor bedeutsamen Mittelschichten einzudämmen.

Zum andern: Diesen Anzeichen verbesserter politischer Rahmenbedingungen, die sich beide Akteure der großen Koalition unter dem Motto "Der Aufschwung ist da" auf die Fahnen schreiben, entspricht aber keineswegs ein tiefgreifender Umschwung in den Mentalitäten und dem Meinungsklima in der Bevölkerung.[1] In weiten Teilen herrschen nach wie vor Unsicherheit, Abstiegs- und Zukunftsängste und ein tiefsitzender Vertrauensverlust in die Gestaltungsfähigkeit der Politik sowie Distanz zu den Repräsentanzstrukturen der Demokratie (Wahlenthaltung, Mitgliederverluste der politischen Parteien, begrenztes Aktivitätspotenzial in zivilgesellschaftlichen Organisationen etc.).

Die Akteure der politischen Klasse sind noch weit davon entfernt, die sich schon über einen längeren Zeitraum hinziehenden Prozesse einer "Demokratieentleerung" zu verändern. Nach wie vor finden in puncto Völkerrecht, Sicherheit, Volksbegehren oder parlamentarischer Transparenz Beschädigungen bürgerlicher Rechtsprinzipen statt. Die politische Ökonomie der Unsicherheit des gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus führt zu Veränderungen im politischen System in Richtung Verselbständigung und professioneller Exklusion und produziert so Formen einer "Passivitätskrise" (Sennett) innerhalb der Strukturen demokratischer Repräsentanz.

Hierbei spielen die Gewerkschaften, die eine für die Ausgestaltung der politischen Kultur eines Gemeinwesens strategisch bedeutsame Scharnierfunktion zwischen Ökonomie und Politik einnehmen, eine entscheidende Rolle. Ihre gegenwärtige Defensivsituation durch den entfesselten und flexibilisierten Kapitalismus schwächt die Wahrnehmung ihres politischen Mandats und damit die Repräsentanz der Kultur der abhängigen Arbeit im politischen Raum und der demokratischen Öffentlichkeit. Umgekehrt ist eine "Revitalisierung" der Gewerkschaften für eine Stärkung demokratischer und linker Politik ein mitentscheidender Faktor, zumal sich die Sozialdemokratie in den letzten Jahren immer weiter von einer sozialen Inklusionspolitik für die Lohnabhängigen entfernt hat. Der Sozialwissenschaftler Sennett zusammenfassend: "Das ist der Grund, weshalb ich mich so sehr für die Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung einsetze. Sofern es den Gewerkschaften gelingt, sich zu entnationalisieren und zu viel flexibleren Organisationen heranzureifen, die noch einmal überdenken, was ihre eigentlichen Zwecke sind, könnten sie sich zu Räumen entwickeln, in denen und aus denen heraus sich Formen eines viel mehr zielgerichteten und spezifischen Handelns entfalten können, die über das institutionelle Wahren eines Gleichgewichts der Kräfte zwischen zwei Formen der Macht, von denen die eine aus den kapitalistischen Unternehmen besteht, hinausgehen."[2]

Gegenwartsdiagnose

Die Möglichkeiten einer "Neuerfindung der sozialistischen Linken" in Deutschland ergaben sich in wesentlichen Teilen aus der Wahrnehmung und dem demokratischen Unbehagen an dieser zugespitzten "Passivitätskrise", in die eine rot-grüne Regierungspolitik weitgehender Zugeständnisse an den neoliberalen Mainstream Gewerkschafter, Mitglieder der eigenen Klientel, globalisierungskritische und außerparlamentarische Bewegungen und die Linke jenseits der Sozialdemokratie geführt hat.

Die Entstehung der WASG und die Revitalisierung der "untoten" PDS war Ausdruck eben dieser Konstellation, und es gelang zeitweilig, die "Passivitätskrise" der bürgerlichen Demokratie unter den Bedingungen eines neoliberalen Kapitalismus in einen komplizierten Lernprozess, in Ansätze einer neuen politischen Kultur jenseits von Sektierertum, in neue Bündniskonstellationen von Gewerkschaftern, ehemaligen Sozialdemokraten, linken Grünen und Teilen von Attac und schließlich in die Gründung einer neuen Linkspartei zusammen mit einer veränderten PDS zu transformieren. Und mit einem Wählervotum von 8%, Mitgliedsbeiträgen, Wahlkampfrückerstattung und Politikerbezügen unterhält die Linke hierzulande seit Ende 2005 als "Die Linke. Im Bundestag" einen mittelgroßen Betrieb von ca. 350 Beschäftigten im professionalisierten politischen Feld.

Nur der Unterbau einer gemeinsamen Partei fehlte noch, der jetzt nachgereicht wird. Dies sollte in Fortführung eines gemeinsamen, politisch kulturvollen Lernprozesses verschiedener Strömungen in WASG und Linkspartei.PDS geschehen – idealtypisch als "lernende Organisation". Davon kann nur bedingt die Rede sein. Im Unterschied zum Gründungsprozess der "Grünen" Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre, der lange Zeit noch von den Folgewirkungen des Öffnungsprozesses des bundesdeutschen Fordismus im Bildungssystem und dem "Mehr Demokratie wagen" der gescheiterten Brandt-SPD zehren konnte, bleibt der Formierungsprozess der neuen Linkspartei mit der Hypothek der Überwindung der skizzierten Passivitätskrise, die auch das eigene Mitglieder- wie Wählerklientel tangiert, und eines frühen Übergewichts der parlamentarischen Vertretung auf Bundesebene gegenüber einer sich erst mühsam formierenden Bundespartei befrachtet. Zur Lösung dieser Probleme ist noch keine adäquate Methodik der politischen Arbeit und öffentlichkeitswirksamen Kommunikation auf gesamtgesellschaftlicher und länderspezifischer Ebene sowie für Bildungsarbeit und die Aktivierung des "Parteilebens" vor Ort gefunden worden.

Zu dieser Aufgabenstellung kommen seit Beginn der großen Koalition die eingangs skizzierten veränderten politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen hinzu. Eine zentrale Schwäche der WASG- und Linkspartei.PDS-Vorstände und insbesondere der Linksfraktion im Bundestag besteht darin, diese Veränderungen nur ungenügend zur Kenntnis zu nehmen, sie nicht aufzugreifen und nach innen wie außen strategisch zu kommunizieren, Interpretationshilfen und -angebote für die eigene Mitgliedschaft und potenzielle Wähler zu liefern, sondern ohne klares Bewusstsein politische Szenarien aus 2005 oft einfach fortzuschreiben. Überlässt man aber die Deutungshoheit ökonomischer und politischer Veränderungen und damit Hegemoniemöglichkeiten der Gegenseite, verlängert man im Grunde die Passivität und Subalternität in den eigenen Reihen, da man sich nicht um Orientierungshilfen bemüht. Das befördert auch nicht gerade einen lebendigen Diskussionsprozess in programmatischen und tagespolitischen Fragen, der den Parteigründungsprozess begleiten sollte.

Was sich hingegen in den Vordergrund schiebt: eine neue "Sozialismusdiskussion". Diese speist sich u.a. aus dem internationalen Kontext des Verfalls neoliberaler Hegemonie in etlichen Ländern Lateinamerikas wie Brasilien, Argentinien, Bolivien u.a. und einer politischen Linkswendung – allen voran im Venezuela des Hugo Chávez.

Zum andern konzentrierte sich die ansonsten spärliche Programmdiskussion zwischen WASG und Linkspartei.PDS auf das Themenfeld des "demokratischen Sozialismus", dessen Eingang als unverzichtbares Erbe von 17 Jahren PDS-Geschichte in das gemeinsame Programm vornehmlich von den "realpolitischen" "Träumern mit hellwacher Vernunft"[3] aus Berliner und ostdeutschen Landtagsfraktionen eingefordert wird. Wird das Abhilfe schaffen, sowohl für die schwelende Passivitätskrise in den eigenen Reihen als auch für die fehlenden Gegenwartsdiagnosen zum Brüchigwerden des Neoliberalismus, dem Pendelumschwung in den USA, den Krisenerscheinungen im bürgerlichen Lager und den ersten Anzeichen von Linkstendenzen in der SPD? Prüfen wir daraufhin unterschiedliche politische Interventionen, die sich mit Blick auf die bevorstehende Parteigründung zu Wort gemeldet haben.

Sozialismus im 21. Jahrhundert

Der gegenwärtige Formierungsprozess der neuen Linkspartei folgt keinem historischen Muster, sondern findet unter spezifischen, zeitlich verdichteten Bedingungen statt. Es fehlen langwierige, gemeinsam geteilte politische, mentalitätsmäßige und weltanschauliche Sozialisationsprozesse. Vielmehr finden sich hier verschiedene kulturelle Milieus, ein Pluralismus politischer Strömungen und eine Anzahl z.T. parteimäßig professionalisierter Einzelakteure zusammen. Das bestimmt auch die Kanäle der politischen und programmatischen Willensbildung. Diese Offenheit reflektierte sich zum Beispiel in Oskar Lafontaines Beitrag "Politik für alle. Streifschrift für eine gerechte Gesellschaft" (Berlin 2005). In der Kurzfassung seiner programmatischen Grundsätze heißt es in Ansehung "aller Kritik am vorherrschenden Kapitalismus" und in Auswertung des gescheiterten Staatssozialismus: "Selbstverständlich sind grundsätzlich andere Wirtschaftsordnungen als die kapitalistische vorstellbar. Nur haben sie heute in der westlichen Welt keine reale Basis – und Politik darf die Basis der Realität nicht verlassen. Zukünftige Generationen mögen darüber nachdenken, ob sie weiter nach kapitalistischen Grundsätzen wirtschaften wollen oder nicht und nach besseren Alternativen suchen. Für meine Generation ist die Entscheidung gefallen: eine bessere Alternative war jener Staatssozialismus, der bis 1990 ›real existierte‹, mit Sicherheit nicht, und nirgends zeichnet sich derzeit im grundsätzlichen eine bessere ab. Deshalb kämpfe ich politisch nicht für die Abschaffung, sondern für die soziale Ausrichtung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, für die Regulierung der Märkte zum Wohle aller. Und dafür, dass aus einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung keine kapitalistische Gesellschaftsordnung und erst recht keine kapitalistische Lebensordnung werden kann." Da der Markt im Kapitalismus sich nicht "um Gerechtigkeit schert ... braucht er Korrekturen, die ihm so etwas wie einen ethischen Sinn eingeben."[4]

In seinem Vortrag "Ende der Geschichte? Über die Chancen eines modernen Sozialismus"[5] liefert Gregor Gysi eine ausführliche theoretische Einordnung einer Kapitalismuskritik und einer Alternativkonzeption nach, die in einem ersten Schritt wesentlich auch auf eine "Wiedereinbettung der Marktwirtschaft in die Gesellschaft" hinausläuft. Gysi erinnert zunächst mit Gramscis Analyse der "passiven Revolution" an eine grundlegende Einsicht der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie in den Charakter der kapitalistischen Produktionsverhältnisse: Diese sind keineswegs ein "fester Kristall" (Marx), sondern können sich gerade in Transformationskrisen wie der gegenwärtigen als außerordentlich elastisch und anpassungsfähig an neue historische Herausforderungen erweisen. Diese Einsicht muss innerhalb der Linken sowohl bei ihrer Kapitalismuseinschätzung als auch einer sozialistischen Transformationsperspektive berücksichtigt werden. Mit implizitem Rückgriff auf Thesen aus dem "Projekt Moderner Sozialismus" von 1989[6] und expliziter Bezugnahme auf den Sozialphilosophen Habermas unterscheidet Gysi zwischen bürgerlicher Moderne und kapitalistisch-ökonomischen Modernisierungsprozessen und plädiert für eine Veränderung des gegenwärtigen Kapitalismus durch "soziale Lernprozesse ..., so dass die emanzipativen Errungenschaften der bürgerlichen Ära bewahrt und ihre desaströsen Momente überwunden werden können. Das entspricht wohl ungefähr dem, was Marx sich unter einer sozialistischen Gesellschaft vorgestellt hat."[7]

Für Gysi kann ein "moderner Sozialismus" als der beständige Versuch begriffen werden, "Entfremdungspotenziale der ökonomischen Moderne zu lokalisieren und zu neutralisieren. Er ist damit Bestandteil eines allgemein angelegten Autonomieprojekts. Damit ist andererseits klar, dass jeder Sozialismus, der eine überzogene Modernekritik dergestalt betreibt, dass ihm auch Rechtlichkeit und Demokratie suspekt sind, Autonomie überhaupt gefährdet." Die Gefährdungen eines solchen Autonomieprojekts gehen gegenwärtig primär von den Entfremdungspotenzialen neoliberal entfesselter (Finanz)Märkte aus. Ob sie sich im Habermasschen Sinne "einhegen" oder nach Lafontaine durch "ethische Sinngebung korrigieren" lassen, bleibt angesichts von Demokratieaushöhlung und politischer Apathie fraglich. Schon nach 1989 trog Habermas’ bürgergesellschaftlicher Optimismus: "Ohne die Stimme der Majorität von Bürgern, die sich fragen und fragen lassen, ob sie denn in einer segmentierten Gesellschaft leben wollen, wo sie die Augen vor Obdachlosen und Bettlern, vor gettoisierten Stadtvierteln und verwahrlosten Regionen verschließen müssen, fehlt einem solchen Problem die Schubkraft, sei’s auch nur für eine breitenwirksame öffentliche Thematisierung. Eine Dynamik der Selbstkorrektur kommt ohne Moralisierung, ohne eine unter normativen Gesichtspunkten vollzogene Interessenverallgemeinerung nicht in Gang." (Habermas 1990) Auch Gysi bleibt verhalten und fordert zunächst "ein Niveau an Regulierung" der Märkte wie in den 1970er/1980er Jahren: "Es handelt sich eigentlich um sozialdemokratische, nicht um sozialistische Politik, die die Linke einfordern muss, weil sich die SPD entsozialdemokratisiert hat."

Das wird nicht funktionieren können. Bezugspunkt von Re-Regulierung heute können nicht die spätfordistischen Verhältnisse, sondern muss die neue Qualität des gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus sein.[8] Die beschleunigte Akkumulation von Geldkapital und Vermögenstiteln zu unterbinden und dies Formen der gesellschaftlichen Ersparnisbildung in sinnvolle Investitionen umzusetzen sowie den Durchgriff großer Kapitalgesellschafen auf betriebliche Wertschöpfungsprozesse und deren Finanzialisierung zurückzudrängen, erfordert weitergehende und qualitativ neue Regulierungen unter Einschluss auch der internationalen Ebene.

Beim Reizthema der Linken – "marktfreie Gesellschaft oder nicht" – positioniert sich Gysi eindeutig: Märkte lassen sich nicht abschaffen und haben sich als äußerst effektiv erweisen. Eine marktfreie Gesellschaft birgt die Gefahr eines Rückfalls in staatssozialistische Fehlentwicklungen: "Da freie Kooperationen ausschließlich durch die Moral der Kooperierenden stabilisierbar sind, besteht hier die Gefahr der moralischen Entlastung durch staatlich-bürokratische Handlungskoordination." Aber weitergehende Autonomiegewinne neben regulierten Märkten, zum Beispiel durch Ausbau von wirtschaftsdemokratischen Strukturen[9] auf betrieblicher Ebene kommen bei Gysi nicht vor. Hier liegt ein zentraler Ansatzpunkt einer modernen Sozialismuskonzeption, die die Autonomiegewinne und erhöhte Subjektivität in der Arbeit in einem entwickelten Kapitalismus nicht neoliberaler "Verantwortungsrhetorik atomisierter Individuen" überlässt, sondern darin Aneignungsperspektiven gesellschaftlicher Produktivität zur Zurückdrängung kapitalistischer Verwertungsimperative durch die Beschäftigten aufzeigt. Die Stärkung der Kompetenz und Partizipation der Subjekte inner- und außerhalb der Arbeit können so auch die Wiederaneignung der Politik durch die BürgerInnen als ProduzentInnen und KonsumentInnen befördern.

Die Resonanz der Diskussion um einen "Sozialismus im 21. Jahrhundert", die auch Eingang in die Programmdebatte und den Gründungsprozess der Linkspartei gefunden hat, lässt sich ohne den internationalen Hintergrund und Bezug insbesondere zu Lateinamerika und den "bolivarischen Prozess" in Venezuela unter Hugo Chávez nicht verstehen.

Heinz Dieterich, der mit seinem Buch "Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus" (Berlin 2006) für Aufmerksamkeit sorgte,[10] bleibt es vorbehalten, in seiner jüngsten Wortmeldung zum Parteibildungsprozess von WASG und Linkspartei.PDS diesen "Gründungsprozess ... in eine(n) weltgeschichtlichen Kontext" einzuordnen.[11] Mit Bezug auf den "bedeutendsten theoretischen Militärdialektiker der Neuzeit, Carl von Clausewitz" legt Dieterich der Bundestagsfraktion als "stärkste(r) parteiliche(r) Machtgruppierung" und den "machtpolitisch entscheidenden Führungspersonen des Parteibildungsprozesses" Gysi und Lafontaine die strategische Option und geschichtliche Verantwortung nahe, im Gründungsprozess der neuen Linkspartei "den gleichen Mut zum Quantensprung aufzubringen wie der Oberst Hugo Chávez in Venezuela". Dazu ist erforderlich, von den drei wesentlichen ideologischen Strömungen innerhalb der Linken – die Parteigänger des historischen Sozialismus, Anhänger einer sozialistischen oder kapitalistischen Marktwirtschaft sowie die Antikapitalisten des 21. Jahrhunderts – den "neoliberal-linken Marktfetischismus", "der an die metaphysischen Konstruktionen des Eurokommunismus erinnert", zurückzudrängen.

Dieterich selbst kennt nur eine "herrschaftspolitisch" verengte Sicht auf den Markt, der zusammen mit "plutokratischer Formaldemokratie, herrschender Klasse und Klassenstaat ... eine unteilbare Einheit (bilden), die sich erst dann zerbrechen lässt, wenn die bürgerliche Armee zerschlagen ist." Dieterich presst hochdifferenzierte Verhältnisse eines entwickelten Kapitalverhältnisses in die Kategorien des "Bewegungskrieges" und eines "Sturms aufs Winterpalais", die für die Metropolen des Kapitals historisch überholt und unangemessen sind. Moderne kapitalistische Ökonomien sind an soziale, politische und kulturelle Bedingungen gebunden, die die Märkte selbst nicht produzieren können. Gerade hier wird die Charakterisierung aus der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie praktisch wahr, dass die Kategorie "des Marktes" nur die oberste, sichtbare Schicht zugrundeliegender gesellschaftlicher Aggregatkräfte und Reproduktionszusammenhänge darstellt. Dieterich stellt die Zusammenhänge des Kapitalkreislaufs völlig auf den Kopf, wenn er dem Markt das "ökonomische Entscheidungsmonopol" für "die ungleiche (asymmetrische) Akkumulation des Kapitals" attestiert. Diese liegt in den Aneignungsstrukturen und Verteilungsverhältnissen des gesamtgesellschaftlich produzierten Mehrwerts begründet. Dessen immense Größenordnung angesichts gestiegener Arbeitsproduktivität und extrem disproportionaler Verteilung zugunsten leistungsloser Besitz- und Vermögenstitel müssten die zentralen Ansatzpunkte für eine sozialistische Transformationskonzeption des gegenwärtigen Shareholder-Kapitalismus darstellen. Dagegen betreibt Dieterich für eine solche Transformation "weltgeschichtliche Totenerweckung" (Marx) in historisch abgelegten Kostümen, in der eine "Koexistenz kapitalistischer Marktwirtschaft und sozialistischer Äquivalenzökonomie" als "Leninsche Doppelmacht" aufgeführt wird.

Methodik politischer Arbeit

Gegen eine solche "Beschwörung der Geister der Vergangenheit" (Marx) hilft nur eine Methodik der politischen Arbeit, die die ideologischen Strömungen aus dem zurückliegenden Jahrhundert, in denen sich die Geschichte der Spaltung der Arbeiterbewegung reflektiert, als vermeintliche Gewissheiten und angebliche politische Orientierungen hinter sich lässt, und Bildungsprozesse organisiert, die zu politischer Urteilskraft, kollektiven Interventionsmöglichkeiten und zu einer Erweiterung subjektiver Handlungsmöglichkeiten befähigt. Hierfür kann immer noch gelten: "Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf." (Marx) Gerade der Neoliberalismus steht für eine Rückkehr mächtiger ideologischer Diskurse ins moderne Alltagsbewusstsein und schwingt sich zu einer "ökonomischen Alltagsreligion" auf. Aber da er keine "Ideologie von oben" ist, sondern an subjektiven Komponenten der lebendigen Arbeit in den veränderten Arbeitsstrukturen und -organisationen ansetzt, besteht auch die Möglichkeit, widerständige und kollektive Aufklärungs- und Lernprozesse zu organisieren.

Die strategische Herausforderung besteht darin, in der Orientierung auf eine neue Qualität sozialer Sicherung und Inklusion zu einer Vernetzung der verschiedenen Protestpotenziale zu kommen. Angesichts der gesellschaftszerstörerischen Folgen neoliberaler Gouvernementalität müssen gewerkschaftliche Bestrebungen einer Rezivilisierung des Kapitalismus und "gegen-hegemoniale" Projekte neuer sozialer Bewegungen zusammengebracht werden. Dabei kann es für eine moderne sozialistische Linke kein einfaches Zurück zu der These geben: die Hegemonie geht von der Fabrik aus. Ebenso einseitig sind Schlussfolgerungen, die Krise der Lohnarbeit führe zu einer neuen "Proletarität".[12]

In der Förderung der programmatischen Debatte in den eigenen Reihen über längerfristige Optionen muss versucht werden, eine Politik der Übergangsforderungen mit qualitativ neuen Regulationssystemen zu verbinden, die einen neuen Konnex zwischen einzelbetrieblicher und gesamtgesellschaftlicher Ebene herstellen können. Ein Schritt in eine solche Richtung weiterführender "changes der kapitalistischen Produktionsweise" (Marx) ist unter dem Druck des Finanzmarkt-kapitalismus die Rückeroberung des sozialen Fortschritts: "Die Finanzwirtschaft ist der Hebel, den die Politik beeinflussen muss, um der Arbeitsgesellschaft zu einem neuen Aufschwung zu verhelfen Die Gesellschaft muss sich die Kontrolle über die Verwendung des Sparkapitals aneignen, das die neoliberale Finanzdoktrin unter dem Deckmantel des Shareholder value auf Abwege brachte. Aber diese Kontrolle kann nur wirksam sein, wenn das Unternehmen zu einer Institution wird, die durch ein definiertes kollektives Interesse geleitet und von Initiativen der demokratischen Beteiligung unterstützt wird."[13]

Christoph Lieber ist Redakteur von Sozialismus. Der Beitrag wurde im Nr. 3/2007 der Zeitschrift Sozialismus veröffentlicht.

[1] Vgl. die Ergebnisse der jüngsten Umfrage vom Institut für Demoskopie Allensbach: "Der selektive Aufschwung. Nur 8% der Bevölkerung rechnen mit einem deutlichen Aufschwung der Löhne", von Renate Köcher, in: FAZ 21.02.2007.
[2] Richard Sennett, "An der Schwelle zum Zerfall". Die US-Gesellschaft in der Passivitätskrise. Gespräch mit Ingar Solty, in: Das Argument 264/2006.
[3] Vgl. Sonderausgabe: Demokratischer Sozialismus, Newsletter vom 8.2.2007 unter Federführung von Stefan Liebich u.a. In diesem "Erbe"-Argument, der Zusammenführung "sozialer Menschenrechte und individueller Freiheitsrechte" sowie einem Hohelied auf die "Mandate in parlamentarischen Vertretungen ... oder ... politischen Wahlämtern" (als Messer- und Gabelfrage "tausend demokratischer Sozialistinnen und Sozialisten") erschöpfen sich die wesentlichen Beiträge dieser Strömung zur inhaltlichen Füllung des Begriffs "demokratischer Sozialismus".
[4] Oskar Lafontaine, Meine Politik, Manuskript 2007.
[5] Gehalten an der Universität Marburg am 24.1.2007, gekürzte Fassung im ND vom 3./4.2.2007.
[6] Vgl. Michael Brie/Dieter Klein (Hrsg.), Umbruch zur Moderne? Kritische Beiträge, Hamburg 1991.
[7] In ihrer "Erwiderung auf Gregor Gysis Vorstellungen vom modernen Sozialismus" geben Klaus Blessing und Matthias Werner diese These Gysis verkürzt und verdreht wider – "Damit ist die Katze aus dem Sack: Erhaltung und Festigung der bürgerlichen Ära bei Kittung ihrer schlimmsten Verwerfungen, das ist Gysis Verständnis vom ›modernen‹ Sozialismus" –, nur um im Gegenzug doch noch "die Erfahrungen des real existierenden Sozialismus durchaus kritisch, aber vor allem schöpferisch auswert(en) und Menschen für eine Veränderung des kapitalistischen Systems gewin(nen)" zu können, in: ND vom 10./11.02.2007.
[8] Zu dessen Analyse vgl. Joachim Bischoff, Zukunft des Finanzmarkt-Kapitalisms. Strukturen, Widersprüche Alternativen, Hamburg 2006.
[9] Vgl. dazu Heinz J. Bontrup/Julia Müller u.a., Wirtschaftsdemokratie. Alternative zum Shareholder-Kapitalismus, Hamburg 2006.
[10] Zur Kritik an Dieterich vgl.: Joachim Bischoff/Christoph Lieber, Dritter Sozialismusversuch: Äquivalenzökonomie?, in: Sozialismus 11/2006.
[11] Heinz Dieterich, Historische Chance, in: junge Welt 2.2.2007.
[12] In diesem Kontext müssen Jürgen Elsässers Thesen entschieden zurückgewiesen werden, die er in seinem jüngsten Buch "Angriff der Heuschrecken. Zerstörung der Nationen und globaler Krieg" (Bonn 2007) den Linken anempfiehlt: "Statt sich auf die Probleme von Randgruppen zu kaprizieren, sollten sie mit einer populistischen Strategie die Politikverdrossenheit ansprechen, die die anderen Parteien längst aufgegeben haben." /16/ Diese verhängnisvoll falsche Gegenwartsanalyse der "Passivitätskrise" resultiert aus folgender Gegenüberstellung: "Der Fordismus war vor allem ausländerfeindlich, der Neoliberalismus ist vor allem inländerfeindlich" /112/ und verschiebt den Frontverlauf in einer Klassenkampfoffensive gegen "die Masse der Bevölkerung, (die sich) über Arbeitslosigkeit, Verelendung, Privatisierung, unsichere Renten und unbezahlbares Gesundheitswesen ärgert – an diesen ökonomischen Fragen allein werden sie sich nicht in Bewegung setzen." /117/ Also muss man die proletarischen Massen überraschen: "Für solche Überraschungen ist Oskar Lafontaine gut. In der Linkspartei (WASG eingeschlossen) ist derzeit fast nur er in der Lage, in die Tiefenschichten der Bevölkerung vorzustoßen und auch denen eine Stimme zu geben, die sich in den Mainstreammedien nicht wiederfinden." /ebd./ Solche cäsaristischen Phantasien und Anmaßungen sollte Elsässer nicht Lafontaine zumuten, sondern sich in dieser Feldherrenpose mit Dieterich zusammentun.
[13] Michel Aglietta/Antoine Rebérioux, Vom Finanzkapitalismus zur Wiederbelebung der sozialen Demokratie, Sozialismus-Supplement 3/2005.

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