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André Brie

EU: Neoliberaler Machtblock, Zerfall oder Feld für ein gemeinsames Projekt?

Mit der bisherigen Politik wird die Europäische Union scheitern

Bei aller Bedeutung der beiden Volksabstimmungen und der sie tragenden gesellschaftlichen Bewegung: Das französische und holländische Nein zum Verfassungsvertrag der Europäischen Union haben die Krise der europäischen Integration nicht ausgelöst, sondern nur kenntlich gemacht. Zwar soll der jüngsten Eurobarometer-Erhebung zufolge die Unterstützung einer EU-Mitgliedschaft in den Bevölkerungen wieder fünf Punkte auf nunmehr 55 Prozent gestiegen sein, doch die Abstinenz bei den Europawahlen, das Desinteresse, die Vorbehalte und die Unkenntnis bleiben groß, nationalistische Einstellungen nehmen in den meisten EU-Ländern zu. Die politischen und sozialen Konsequenzen der Erweiterung von 2004 sind nicht bewältigt. Die Lissabon-Strategie, die aus der EU bis 2010 die »dynamischste« Wirtschaftsregion der Welt machen sollte, ist in dieser Hinsicht gescheitert und wird dagegen vor allem als wirksames Vehikel zur Zerstörung der europäischen Sozialstaatsmodelle genutzt. Die »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« wird in jedem Dokument und jeder Rede feierlich beschworen, von der Bereitschaft und Fähigkeit zu einer gemeinsamen Außenpolitik sind die Regierungen jedoch in fast allen entscheidenden Fragen weit entfernt.

Die politische Klasse EU-Europas, ob Konservativ, liberal oder sozialdemokratisch, jammert. Sie klagt über das Nein der französischen und niederländischen Bevölkerung und über die eigene Ratlosigkeit, damit umzugehen, über die Krise der europäischen Integration, vor allem aber über die angebliche Unbezahlbarkeit des Sozialstaats. Am jammervollsten ist ihr Gerede von der Alternativlosigkeit des Sozialabbaus, mit dem »Europa« auf dem globalisierten Markt wettbewerbsfähig gemacht werden soll. Seit Margaret Thatcher in den 70er Jahren die TINA-Losung »There Is No Alternative« ausgab, ist die These der Alternativlosigkeit und vor allem die damit ideologisch begründete Politik eines antisozialen roll back Gemeingut der herrschenden Politik – in der EU wie in ihren Mitgliedsländern – geworden.

»Wenn die Linke sich es nur traute...«

Ich kann nicht über die norwegischen oder andere skandinavischen Positionen zur europäischen Integration diskutieren. Das sind andere Bedingungen und Erfahrungen. Für die Linke in vielen Ländern der Europäischen Union, in Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, aber auch in zahlreichen neuen Mitgliedsstaaten, ergibt sich jedoch die dringende Frage, ob sie die weitere Integration will, welche Integration sie will, welche Antworten sie für die gravierenden Herausforderungen hat. Ausgesprochen und unausgesprochen gibt es auch in der deutschen Linken antieuropäische Positionen, die teilweise mit ernst zu nehmenden Argumenten vertreten werden. Ich teile die Kritik an der EU-europäischen Realität: an der Dominanz des Marktradikalismus für die gesamte Entwicklungsrichtung der EU (die Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza, der Verfassungsvertrag, die Dienstleistungsrichtlinie, um nur einige wichtige Erscheinungen zu nennen); an der Abschottung gegenüber dem Süden der Erde; an der Einschränkung von Bürger- und Menschenrechten; an dem akuten Demokratiedefizit; an den machtpolitischen Ambitionen in den internationalen Beziehungen und der äußerst unterentwickelten Bereitschaft, die europäischen Außenpolitiken auf die Stärkung der UNO, des Völkerrechts und Multilateratismus sowie auf eine ursachenorientierte und wirkungsvolle zivile Konfliktprävention auszurichten. Widerstand der Linken gegen diese Politik ist dringend erforderlich und muss deutlich stärker, öffentlichwirksamer und nachhaltiger werden. Doch nach meiner Überzeugung ist die inzwischen nicht mehr unwahrscheinliche Desintegration und Renationalisierung und eine klammheimliche Freude der Linken am Scheitern der Europäischen Union keine ausreichende und verantwortliche Alternativen. Erstens stünde an ihrem Ende ebenfalls eine neoliberale und sozial zerstörerische europaweite Freihandelszone, die aber anders als die EU nicht nur schwierige und unzureichende, sondern gar keine demokratischen und sozialen Gestaltungsmöglichkeiten erlaubte. Zweitens würden die Möglichkeiten, die europäische Integration für eine strukturelle Kriegsunfähigkeit wenigstens auf dem europäischen Kontinent gefährdet werden. Drittens halte ich die Integration für eine strategische Chance für die europäischen Sozialstaaten unter den Bedingungen der marktradikalen Globalisierung. So wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert der Nationalstaat der politische Raum für die Arbeiterbewegung und andere Kräfte war, den Manchesterkapitalismus zu fesseln, so könnte es (neben den weiterhin bedeutsamen Staaten und nationalen Gesellschaften und den nationalen sozialen und politischen Kämpfen) heute die Europäische Union sein. Zwar werden gegenwärtig 40 oder sogar 50 Prozent der Bruttosozialprodukte von EU-Mitgliedsländern über den internationalen Handel realisiert, wie zum Beispiel im deutschen Fall jedoch zu vier Fünftel davon innerhalb der EU. Sie ist ein riesiger und durchaus binnenmarktfähiger Wirtschaftsraum, der genutzt werden könnte, die Rückkehr des Laissez-Faire-Kapitalismus über die neoliberale Globalisierung abzuwehren, die verschiedenen europäischen Sozialstaatsmodelle zu erhalten sowie europäisch zu ergänzen und weiterzuentwickeln.

Noch gibt es dafür mehr oder minder starke Anknüpfungspunkte. Trotz der bereits vollzogenen Zerstörung von bedeutungsvollen sozialen und demokratischen Errungenschaften in Deutschland, Österreich, Frankreich und anderen Ländern hat der einflussreiche US-Ökonom Jeremy Rifkin im Grunde Recht, wenn er auf die Journalistenfrage »Wie soll der ‚europäische Traum’ bezahlt werden? Europa orientiert sich ja am US-Wirtschaftsmodell – etwa bei den Lissabon-Zielen« antwortet: »Das ist ein Fehler. In Europa höre ich immer wieder: Eine starke Wirtschaft und der Sozialstaat stehen im Widerspruch zueinander. In Statistiken über wachstumsorientierte Wirtschaften führen aber stets die nordeuropäischen Länder. Ihr Geheimnis? Sie haben ihren Sozialstaat reformiert...« Noch etwas ist in Rifkins Vergleich zwischen den USA und Europa bedenkenswert: »Ihr diskutiert über Rechte, die wir nicht einmal kennen: Pensionen, Mutterschutz etwa. Menschenrechte und Nachhaltigkeit spielen in politischen Diskursen eine tragende Rolle. Der europäische Traum beruht auf Kooperation. Deshalb passt er auch in die globalisierte Welt – im Gegensatz zum individualistischen amerikanischen Traum.« (Die Presse, Wien, 20. Juli 2006) Man wird Rifkin entgegenhalten, dass die europäische Realität so leider nicht ist, nicht die Realität der europäischen Politik, auch kaum die Realität der vorherrschenden europäischen Diskurse. Das trifft zu, ändert aber nichts daran, dass die Linke in einer sozialen und demokratischen Änderung der europäischen Diskurse und Realitäten einen nachhaltigeren Platz als im alleinigen Widerstand finden könnte, ganz wie es Michael Krätke, Professor an der Amsterdamer Universität vorschlug: »Das ‚europäische Sozialmodell’ hat seine Zukunft noch vor sich. Die europäische Linke könnte es zu ihrem Markenzeichen machen, zu ihrem gemeinsamen Projekt, wenn sie es sich nur traute.« (»Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik«, Zürich 2005, Heft 48)

In der erwähnten europäischen Umfrage zeigt sich, dass es dafür durchaus auch eine - wenngleich noch recht abstrakte – Grundlage in den Bevölkerungen gibt. Als besonders zentrale Herausforderungen für die europäische Integration in den kommenden Jahren werden angesehen: Erstens die Modernisierung und Demokratisierung der Gemeinschaft, ihrer Institutionen und Mechanismen und damit im Zusammenhang der Verfassungsprozess; zweitens der Umgang mit Bewerbern um eine EU-Mitgliedschaft sowie Möglichkeiten und Grenzen der Erweiterung und drittens die soziale Dimension Europas, was solche Aspekte wie Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut oder auch die Weiterentwicklung der »Lissabon-Strategie« einschließt-

Neoliberales Regelwerk statt tragfähiger Verfassung

Die Ablehnung des vorliegenden Verfassungsvertrages durch die Linke ist meiner Meinung nach berechtigt und gut begründet. Für mich ist aber auch unbestreitbar, dass die Europäische Union eine Verfassung braucht. Ein »Grundgesetz«, das in der Tradition der amerikanischen Konstitution von 1787 – der ältesten und noch gültigen schriftliche Verfassung der Welt – und der Verfassung der Französischen Revolution steht. Weitreichende Souveränitäts- und andere Rechte sind an die EU abgegeben worden, ohne dass die Bürgerinnen und Bürger einklagbare individuelle Rechte gegenüber den EU-Institutionen und wirkungsvolle demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten erhielten. Achtzig Prozent der Entscheidungen des Deutschen Bundestages und 60 Prozent der Entscheidungen in deutschen Gemeinderäten beruhen auf Brüsseler Verträgen und Richtlinien oder werden entscheidend von ihnen beeinflusst. Ohne Verfassung drohen Europa Desintegration und anarchistische Renationalisierung. Es darf aber nicht allein darum gehen, die Schwächen des Nizza-Vertrages auszumerzen. Eine europäische Verfassung muss die Rechte der Bürgerinnen und Bürger ebenso sichern wie eine durchgreifende Demokratisierung der EU. Sie muss die Grundlage bilden, auf der Europa eine friedliche, sozialere und umweltgerechtere Weltpolitik unterstützen kann. Die Vielfalt der Nationen und Kulturen, der politischen Erfahrungen und religiösen Anschauungen, nicht zuletzt auch der Verfassungstraditionen selbst müssen sich in einer europäischen Verfassung widerspiegeln. Und sie muss der Integration eine nachhaltige, erneuerte Identität und Faszination verleihen und dazu beitragen, die wachsende Kluft zwischen »europäischen Bürgern« und europäischen Politik zu überwinden.

Bemerkenswert ist, dass sich fast zwei Drittel der im aktuellsten Eurobarometer Befragten für das Projekt einer europäischen Verfassung aussprachen. Damit hat sich an der Meinung zu diesem Thema kaum etwas geändert. Die Frage, ob der vorliegende Verfassungsvertrag Zustimmung findet, wurde offenbar vorsichtshalber nicht gestellt. In einer gesonderten Umfrage vom vergangenen Jahr hatte sich fast die Hälfte für eine Neuverhandlung des Textes ausgesprochen; noch viel deutlicher war die Absage bei den Referenden in Frankreich und der Niederlande (29. Mai bzw. 1. Juni 2005) mit etwa 55 bzw. 61 Prozent Nein-Stimmen.

Obgleich die Ablehnung natürlich auch national spezifische Gründe hinein spielten, ist der unsoziale Charakter der EU-Verfassung in breiten Teilen der Bevölkerung durchschaut worden (in Frankreich wurde der Text an alle Haushalte verteilt, es fanden Diskussionen und Foren zu dem Thema statt). Tatsächlich können einige wohlklingende Passagen nicht darüber hinweg täuschen, dass dem Dokument ein neoliberales Konzept zugrunde liegt. So finden sich im ersten, eher deklaratorischen Teil des Vertrags Begriffe wie sozialer Schutz und Gerechtigkeit oder Vollbeschäftigung. Im entscheidenden dritten Teil jedoch ist keine Rede mehr von »sozialer Marktwirtschaft« (Art. I-3, Ziffer 3), sondern nur noch vom Grundsatz »einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« (Art. III-177). Die Währungspolitik wird auf die Gewährleistung von Preisstabilität konzentriert – und damit begrenzt (Art. III-185). Das sind praktische Handlungsanweisungen an die Politik mit voraussehbaren, fatalen Konsequenzen. Im Falle der Grundrechtcharta zogen die Regierungen, die letztlich über den Vertragstext befunden hatten, gar die Notbremse: Mit der Aufnahme der »Erläuterungen zur Grundrechtecharta« als Protokoll zum Verfassungsvertrag wurde die rechtliche Bindungswirkung insbesondere der sozialen Grundrechte deutlich abgeschwächt.

Sicher werden Befürworter der Verfassung entgegen halten, dass Maximalforderungen in einem solchen Papier nicht durchsetzbar sind und man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen dürfe. Ich bin mir über den wünschenswerten Kompromisscharakter des Verfassungsvertrages im klaren. Aber die genannten Aspekte sind Essentials, die nicht für Tauschgeschäfte missbraucht werden dürfen.

Das betrifft nicht zuletzt die Sicherheitspolitik. Die Verfassung sieht nicht nur militärische Einsätze, auch außerhalb des Unionsterritoriums, vor, sondern, wohl einzigartig, die permanente Aufrüstung als gemeinschaftliches Ziel. Die Mittel der friedlichen Streitbeilegung und der Konfliktprävention sind dagegen unterbelichtet. Wie aber verträgt sich das mit dem Verfassungshinweis auf die UN-Charta, die den Schwerpunkt auf nichtmilitärische Krisenintervention legt und den Truppeneinsatz nur als letzten Mittel und mit strengen Auflagen vorsieht?

Das Ziel, diese Verfassung zur Grundlage neoliberaler Politik in Europa zu machen, ist trotz der »Eiszeit« nach den Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden von den Regierungen keinesfalls aufgegeben worden.

Erweiterung als Herausforderung

Unmittelbare Auswirkungen hat die Verfassungsdiskussion auch auf künftige Beitritte zur EU – eine weitere strategische Herausforderung der Integration. Wer für weitere Beitritte eintritt (wie große Teile der Linken in den EU-Mitgliedsländern) wird sich auch für die erforderlichen und sehr wesentlichen institutionellen Reformen der EU und ihre demokratische Ausgestaltung engagieren müssen. Unbestritten sind Mechanismen, Institutionen und Abstimmungsprozesse in der EU, die ursprünglich für ein halbes Dutzend Staaten geschaffen wurden, für künftige Erweiterungen nicht tauglich. Sie sind es bereits für die heutige, mehrfach gewachsene Gemeinschaft nicht mehr. Das liegt aber vor allem daran, dass bestehende Machtverhältnisse in Europa erhalten bleiben sollen und nationale Interessen weiter dominieren. Was heute gern – mit Verweis auf die durchgefallene Verfassung – als »fehlende Erweiterungsfähigkeit« bezeichnet wird, sollen nun die Beitrittskandidaten ausbaden.

Besonders dramatisch ist, dass sich diese Staaten in einem ungeheuren Kraftakt den Vorgaben der EU unterworfen und die sogenannten Kopenhagener Kriterien, die hohe Hürden für den Beitritt aufstellen, zugleich aber kaum auf nationale Gegebenheiten und Interessen der Kandidaten eingingen, erfüllt haben. Vor allem aber fehlt der EU eine Strategie, wie mit weiteren Beitrittswünschen umgegangen werden soll. Ich halte weitere Beitritte für richtig, wenn die betreffenden Völker dies wünschen und die demokratischen, menschenrechtlichen und anderen Anforderungen erfüllt sind. So kann eine EU-Mitgliedschaft von Staaten des westlichen Balkans durchaus ein entscheidender Beitrag zur Austrocknung der dort weiter schwelenden Konflikte sein. Gerade die letzten Monate zeigten jedoch, dass der Weg dieser Staaten in die EU nicht eben ist. Die hohen Maßstäbe, die Brüssel an die Zusammenarbeit dieser Länder mit dem internationalen Tribunal für das ehemalige Jugoslawien anlegt, müssen auch bei anderen Verletzungen der Völker- und Menschenrechte zur Anwendung kommen. Mit dem faktischen Schweigen und der Tatenlosigkeit beispielsweise zu CIA-Entführungen in Mazedonien oder anderen illegalen Aktivitäten US-amerikanischer Geheimdienste in Beitrittsstaaten, die von den Regierungen dieser Länder offensichtlich geduldet werden, haben sich EU-Kommission und Rat ein Armutszeugnis ausgestellt. Dass diese Geheimdienstpraktiken ebenso in der EU geduldet werden, sei hier nur am Rande vermerkt.

Auch für die Türkei war die EU-Perspektive, zumindest eine Zeit lang, ein ausschlaggebendes Motiv für lange überfällige Demokratisierungsbemühungen. Unbestritten scheiden sich aber gerade an einer Aufnahme dieses Landes die Geister. Fakt aber ist, dass die Europäische Union keinesfalls ein exklusiver oder gar »christlich-abendländlicher« Klub ist. Entsprechend der Verträge ist die EU für jedes europäische Land offen. Obwohl der größere Teil des türkischen Territoriums in Asien liegt, trifft dieses Kriterium eindeutig auf sie zu: Die Türkei ist seit langem Mitglied des Europarates und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sowie anderer europäischer Institutionen. Das wurde nie in Frage gestellt.

Zugleich sind jedoch im »Fall Türkei« gravierende, sehr ernste Probleme offensichtlich: Trotz einiger positiver Entwicklungen in den vergangenen Jahren werden die Menschenrechte und die Rechte von Minderheiten in der Türkei vielfach und oft massiv verletzt. Insbesondere die Situation der Frauen und der Kurdinnen und Kurden ist nach wie vor besorgniserregend. Elementare politische Freiheiten, wie das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit, grundlegende demokratische Standards wie die zivile und parlamentarische Kontrolle des Militärs sind nicht wirklich realisiert. Folter ist in den türkischen Gefängnissen weiter an der Tagesordnung. Viele Gesetze, mit denen solche Probleme verändert werden sollen, werden praktisch nicht umgesetzt. Dramatisch ist auch das soziale und wirtschaftliche Gefälle im Land. Im Durchschnitt erreicht die Türkei ohnehin nur 22 Prozent des Pro-Kopf-Einkommens der 15 alten EU-Mitgliedsländer. Das Entwicklungsniveau des vornehmlich von Kurden bewohnten Südostens des Landes ist noch bei weitem geringer. Zudem hält Ankara an der Besetzung Nordzyperns fest und anerkennt die Souveränität der Republik Zypern, eines Mitgliedslandes der EU, praktisch nicht. Ohne gravierende, umfassende und praktische Veränderungen in der türkischen Politik, ohne di vollständige Erfüllung der Kopenhagener Kriterien kann die Türkei nicht EU-Mitglied werden.

Sozialpolitik auf dem Abstellgleis

Dass neue Erweiterungsrunden laut Eurobarometer vom Frühjahr von einem großen Teil der Bevölkerung abgelehnt werden (42 Prozent der Befragten sind dagegen), hat aber offensichtlich weniger mit politischen Aspekten zu tun als mit der berechtigten Sorge der Menschen vor einer ungewissen wirtschaftlichen und sozialen Zukunft in EU-Europa. Dabei tragen die Fakten nicht gerade zur Beruhigung bei: Anfang 2006 waren laut offizieller EU-Statistik 18,4 Millionen Menschen in der EU arbeitslos.

Die – praktisch fehlende – Sozialpolitik in der EU ist das dritte zentrale Problemfeld der Entwicklung in Europa. Das Hauptproblem der EU-Politik, am deutlichsten sichtbar im Maastricht-Vertrag und im Verfassungsentwurf, war immer, das die Sozialpolitik besten Falls als Anhängsel, Instrument oder eine gewisse Abfederung der Marktentwicklung verstanden wurde. Dies gilt auch für die im Jahr 2000 gestartete »Lissabon-Strategie«. Was viele nationale Regierungen in dieser Offenheit nicht wagen – auf europäischer Ebene wurde nun im Kern das US-amerikanische Sozialsystem zum Leitbild und mit dem Vehikel der Eu-Politik auch in die Nationalstaaten durchgedrückt: Denunzierung des Sozialstaats als Wirtschafts- und Wettbewerbshindernis, Privatisierung und Kapitalmarktorientierung der sozialen Vorsorge, Deregulierung der Arbeitsmärkte. In einem entscheidenden Punkt jedoch unterscheidet man sich von den USA: Während Washington seine Finanz- und Wirtschaftspolitik am eignen Binnenmarkt orientiert, setzen die EU-Kommission und die europäischen Regierungen auf den globalisierten und marktliberalen Weltmarkt und den Kostenwettbewerb der Mitgliedsländer gegeneinander statt auf die Nutzung und Entwicklung des großen Binnenmarktes, der europäischen Binnenmarktnachfrage und einer gemeinsamen solidarischen Wirtschafts-, Sozial- und Kohäsionspolitik.

Offiziell betont die Lissabonner Strategie die Verbindung von Wachstum und Beschäftigung mit dem sozialen Zusammenhalt. Die geforderten und gegenwärtig in der gesamten EU umgesetzten »Sozialreformen« zielen jedoch darauf ab, den Sozialstaat nach dem Prinzip der »individuellen Eigenverantwortung« umzugestalten. Das heißt beispielsweise in der Altersicherung die Beschränkung der öffentlichen Rentensysteme auf eine alles andere als armutsfeste Basissicherung, zumal die prioritäre Orientierung auf kapitalgedeckte private und betriebliche Altersvorsorge vor allem der Schaffung eines europäischen Finanzmarktes dienen soll. Im Gesundheitswesen wird auf die Versorgung lediglich mit »medizinisch notwendigen« Pflichtleistungen sowie erhöhte Zuzahlungen orientiert. Trotzdem noch auf dem Frühjahrsgipfel 2006 die Strategie bekräftigt wurde, sind zudem die beschäftigungspolitischen Ziele in der Realität weitgehend aufgegeben worden. Insgesamt ist bei den »Reformen« im Sozialbereich keine Umstellung auf dauerhaft tragfähige Systeme erkennbar, sondern der europaweite Rückzug des Staates aus der kollektiven Fürsorge.

Damit schließt sich – für mich – der Kreis: Wer in Deutschland oder Frankreich um die Neugewinnung des Sozialstaates kämpft, muss die europäische Integration als entscheidenden Raum dieses Kampfes berücksichtigen und annehmen. Wer das Projekt der europäischen Integration nicht aufgeben will, muss und kann es nur in der Perspektive einer europäischen Sozialunion finden. Ohne eine grundlegend veränderte europäische Wirtschaftspolitik statt der »New Economy« des Lissabon-Prozesses wird das nicht erreichbar sein. Sozialer Zusammenhalt, soziale Sicherheit und ökologisch nachhaltige Entwicklung müssen ihre gesellschaftspolitischen Ziele und ihr integraler Bestandteil zugleich sein. Die Grundzüge des dafür erforderlichen policy mix sind offenkundig:

- eine wirtschaftspolitische Kooperation zwischen der Europäischen Zentralbank, der Wirtschafts- und Fiskalpolitik der Mitgliedsstaaten und der Lohnpolitik,
- eine entspanntere Geldpolitik,
- eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik,
- eine binnenwirtschaftsorientierte Strategie für Nachhaltigkeit und
- eine Haushaltspolitik, die öffentliche Investitionen, Forschung und Bildung sowie die Entwicklung von Humanressourcen stärkt,
- eine konsequente Gleichstellungspolitik,
- eine Sozialunion mit europäischen Mindeststandards für soziale Leistungen, Löhnen und Unternehmenssteuern, die schrittweise in Korridoren nach oben angenähert werden.

Dies wäre eine tatsächliche Reform in der EU. Verbunden mit einer nachhaltigen Demokratisierung der EU, die in einer gemeinsamen Verfassung festgeschrieben werden muss, und einer Erweiterungspolitik auf der Basis von Fairness und Gleichberechtigung hat EU große Chancen. In einer solchen Richtung läge auch eine linke europäische Verantwortung und Chance.

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